Teppiche aus Schlesien
Görlitz, 17. Juni 2021. Nicht nur die Beschäftigten der ehemals wirtschaftsprägenden Oberlausitzer Textilindustrie erinnern sich an die vielen Standorte mit ihren beeindruckenden Industriebauten, von denen allerdings etliche bereits verschwunden sind.
Ein Kapitel deutscher Industriegeschichte
Wer sich in einem etwas umfassenderen Rahmen für die historische Entwicklung der Textilindustrie zwischen Radeberg und Lauban (Lubán) interessiert, für den gibt es aus der Feder von Frank Nürnberger mit dem opulenten Band "Geschichte der Oberlausitzer Textilindustrie" ein bemerkenswerte Fundquelle – nicht zuletzt, weil 70 sogenannte Gewährsleute als Zeitzeugen zugearbeitet haben. Zwar schreibt Nürnberger im Vorwort, dass nur "ein ausgewählter Überblick zur Gesamtthematik gegeben" werde, dennoch beeindruckt das Buch in seiner Systematik, die in historischen Aspekten der Oberlausitz, ihrer politischen Entwicklung und ihrer geografischen Einordnung ansetzt. Immerhin erfolgte bereits im Jahr 1312 die erste Zunftgründung von Oberlausitzer Tuchmachern in Zittau.
Der erste große Teil des Buches, der 218 der insgesamt 460 Seiten ausmacht, umfasst Nürnbergers Arbeitsergebnisse inklusive einem ausführlichen Literatur- und Quellenverzeichnis. Nürnberger beleuchtet zunächst die Textilherstellung von ihren Anfängen bis zum Beginn der 17. Jahrhunderts. Dabei geht er besonders auf die Tuch- und die Leinwandproduktion ein, stellt die Manufaktur vor und das sich entwickelnde Verlagssystem.
Von 1600 bis 1990 – und danach
Anschließend beschäftigt sich Nürnberger detailliert mit der Oberlausitzer Textilindustrie von 1600 bis 1990. Dabei berücksichtigt er wichtige Zusammenhänge wie etwa die Bevölkerungsentwicklung, die verarbeiteten Rohstoffe und die technologische Entwicklung.Neben der regionalen Produktspezialisierung auf
- die Damastweberei in Großschönbau,
- die Bandweberei in der Westlausitz,
- die Frottierweberei in der Südlausitz,
- die Taschentuchproduktion in Lauban und
- die Grobgarnindustrie in Kirschau und Umgebung
beleuchtet Nürnberger auch die Verflechtung der Textilindustrie mit anderen Industriezweigen vor Ort. Die historischen Betrachtungen enden 2007, dem Erscheinungsjahr des Buches, allerdings nicht ohne einen Ausblick auf die Perspektiven der Oberlausitzer Textilindustrie, der auf Spezialtextilien und die Hochveredlung fokussiert.
Firmengeschichten aus der Oberlausitz
Auf den Seiten 238 bis 457 werden ausgewählte Firmengeschichten vorgestellt, als "lückenhaftes Konstrukt" wie Nürnberger anmerkt. So fehlt etwa die HeLiKo, die nach Helene Lina Koch – deportiert 1942, ermordet 1943 – benannte Fabrik in Neugersdorf. Dennoch: Der Detailreichtum und die vielen Illustrationen des Bandes begeistern.Am Ende des Buches sind die Gewährsleute mit Namen und Anschrift genannt. Ganz offenbar war es Nürnberger ein großes Anliegen, dass seine Forschungen und Sammlungen weitergeführt werden.
Teppiche: Die Spur führt von Schlesien nach Bayern
Bei aller Vielfalt der Textilindustrie der Oberlausitz fällt auf: Teppiche wurden offenbar hier nie gewebt. Wer nach einer Teppichindustrie sucht, muss bei den schlesischen Webern recherchieren. In Oberschlesien finden sich im früheren Regierungsbezirk Oppeln in der Stadt Katscher (Kietrz) Spuren der Teppichweber. Katscher, von Siedlern nach deutschem Recht gegründet, ist sein 1321 Stadt. Deren wechselvolle Geschichte spiegelt sich in der Zugehörigkeit zu Mähren, seit 1742 zu Preußen und heute zu Polen. Von den klangvollen Namen, die über ihre Familie eng mit der Stadtgeschichte verbunden sind, dürfte in Görlitz der als Drehbuchautor, Filmproduzent und Regisseur bekannte Florian Henckel von Donnersmarck, aufhorchen lassen, dessen Familie einst zu den wechselnden Eigentümern des Ortes zählte.Die Wurzeln des wirtschaftlichen Erfolgs von Katscher liegen in der Handweberei. Im 19. Jahrhundert entwickelten sich Fabriken zur Herstellung von Plüsch, von Decken und eben auch von Teppichen. Von Bedeutung waren zudem Emaillier- und Gipswerke.
Von Davistan zur modernen Industrie
Von besonderem Interesse ist jedoch die Geschichte der Davistan Krimmer-, Plüsch- und Teppichfabriken AG, kurz Davistan. 1850 von der Familie David in Berlin gegründet, wurde das Unternehmen im Jahr 1907 von dem jüdischen Eigentümer Ernst Frank nach Katscher verlegt, wo Frank im Jahr 1929 Ehrenbürger wurde. Im Jahr der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten floh die Familie aus Deutschland. 1940 wurde das Unternehmen vom 31-jährigen Wilhelm Schaeffler, Wirtschaftsprüfer bei der Dresdner Bank , übernommen. Der ließ zusätzlich zu den vier Textilwerken ab 1943 Rüstungsbetriebe errichten, die Nadellager, Abwurfgeräte für Fliegerbomben, Geschützteile und anderes mehr herstellten.Vor der heranrückenden Roten Armee wurde die Nadellagerfertigung nach Oberfranken verlagert. 1946 gründeten die Gebrüder Schaeffler in Herzogenaurach eine erfolgreiche Nadellagerproduktion, zweites Standbein blieb die Teppichproduktion. Mit dem alten Davistan-Kerngeschäft gehörte die Schaeffler-Gruppe in den 1970er Jahren zu den größten Teppich- und Teppichboden-Produzenten der Bundesrepublik, wie man auf Wikipedia unter dem Stichwort "Davistan" nachlesen kann. Heute ist die Schaeffler-Gruppe ein bedeutender Zulieferer für die Autoindustrie, den Maschinenbau sowie die Luft- und Raumfahrtindustrie.
Heute: auch der Fachhandel ist online
Soweit zur Spur der schlesischen Teppichweber, die bis in die mittelfränkische Stadt Herzogenaurach führt. Dort hat übrigens nicht nur die Schaeffler-Gruppe, sondern auch Adidas und Puma ihren Sitz. Die Idee zu diesem Abriss der Oberlausitzer und der schlesischen Textilgeschichte entstand bei der Suche nach einem neuen Teppich. Beim Versuch, online eine erste Orientierung zu finden, stellte sich heraus: Die Marken und vor allem die unterschiedlichen Qualitäten sind für einen Laien kaum durchschaubar. Allerdings ist beim Versuch, einen Teppich online kaufen zu wollen, die verlinkte Website positiv aufgefallen: Einmal wegen der durchdachten Präsentation nach unterschiedlichen Auswahlkriterien, vor jedoch aber durch ein Video-Statement des Geschäftsführers. Das ist mit 14 Minuten zwar reichlich lang, bringt aber sympathisch rüber, wie ein Fachhändler sein Geschäft seit nun zehn Jahren ins Internet verlagert hat, ohne die drei vielleicht wichtigsten Kriterien des Fachhandels zu vernachlässigen: Zuverlässige Sortimentsqualität, kompetente Beratung ohne Verkaufsfloskeln und Verantwortung gegenüber den Kunden und den Lieferanten.Buchtipp!
Geschichte der Oberlausitzer Textilindustrie,
Autor: Frank Nürnberger,
erschienen 2007 im Oberlausitzer Verlag Frank Nürnberger,
ISBN: 978-3-933827-70-8
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- Quelle: TEB | Fotos: © BeierMedia.de
- Erstellt am 17.06.2021 - 12:53Uhr | Zuletzt geändert am 17.06.2021 - 13:29Uhr
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