Wissen richtig vermitteln
Görlitz, 9. Mai 2020. CEG. Die Coronakrise hat in den vergangenen Wochen Schüler dazu verdammt, von zu Hause aus zu lernen. Schnell war von "digitalem Unterricht" die Rede, der jetzt seinen Durchbruch erfahre, doch das neue digitale Lernen beschränkte sich in Wirklichkeit oft genug auf den E-Mail-Versand von Arbeitsblättern, die dann erst einmal gedruckt werden mussten – was, abgesehen vom Papierverbauch, gar nicht so nachteilig ist, wie der Unternehmensberater Thomas Beier meint.
Zuviel Bildschirmlernen macht nicht schlauer
Beier beobachtet die Diskussionen um das digital unterstützte Lernen an Schulen seit langem kritisch: "In Unternehmen befassen wir uns unter anderem mit der hirngerechten Aufbereitung von Informationen. dabei geht es darum, anderen zu ermöglichen, Informationen möglichst vollständig und fehlerfrei zu erfassen. Die digitale Übermittlung von Informationen ist dabei nicht in allen Fällen der beste Weg."
Seine Kritik setzt an, wenn Kinder schon in jungen Jahren mit Bildschirmgeräten wie etwa Tablet-PCs arbeiten sollen: "Bildschirme bedienen über die Augen vor allem das Aufmerksamkeitszentrum im Hirn, was eher zu einem passiven Verfolgen dessen, was auf dem Bildschirm vorgegeben wird, führt. Die komplexe Wahrnehmung wird stark reduziert." Die Folgen seien dramatisch: "Das kindliche Hirn ist hoch vernetzt, erst im Laufe der Entwicklung bis ungefähr ins Alter der Pubertät stellt sich heraus, welche der Synapsen genannten Verknüpfungen erhalten bleiben und welche verkümmern." Es komme nach Beier darauf an, Kindern eine vielseitig anregende Umgebung zu bieten, zu Hause, in der Kita und in der Schule, damit möglichst viel Synapsen erhalten werden. Wer als Erwachsener viele Synapsen habe, könne komplexe Zusammenhänge verstehen, beim wem viele Synapsen verkümmert seien, werde hingegen gewöhnlich als schlichter oder einfacher Mensch bezeichnet. Ein wichtiger Beitrag, die Leistungsfähigkeit des kindlichen Hirns mit seiner schnellen Auffassungsgabe zu entfalten – besser gesagt: zu erhalten – sei es, sich analog zu beschäftigen, etwa zu singen, zu basteln, Theater zu spielen, zu malen und von Hand zu schreiben – wodurch sich der Vorteil des eingangs erwähnten ausgedruckten Arbeitsblattes als analoges Medium erschließt.
Tipp:
Wer sich vertiefend für die Entwicklung des kindlichen Hirns interessiert, findet hier umfassende, gut verständliche Informationen: Dr. Martin R. Textor: Gehirnentwicklung im Kleinkindalter - Konsequenzen für die frühkindliche Bildung, erschienen auf Das Kita-Handbuch.
Besonders schädlich für die kindliche Entwicklung, so Beiers Auffassung, seien billig produzierte Trickfilme, die den Aufmerksamkeitseffekt nutzen und nur jeweils an einer Stelle des Bildes für Bewegung sorgen: "Hingeschaut wird, wo sich etwas bewegt, der Rest wird ausgeblendet. Denken lernt man so nicht." Wenn Eltern ihre Kinder vor dem TV-Gerät ruhigstellen oder frühzeitig mit Smartphones hantieren lassen, verweisen sie ihnen demnach keinen guten Dienst. Beier weiter: "Wir müssen unterscheiden, was gelernt wird und wie es gelernt wird. Vieles, was früher als Faktenwissen eingepaukt wurde, ist heute in diesem Maße nicht mehr nötig – dieses Wissen hat sich ins Internet verlagert." Wichtiger sei, bei Kindern die Grundlagen für das Erkennen komplexer Zusammenhänge und das Denken zu fördern. Beier weiß, dass es arrogant erscheinen mag, wenn er sagt: "Viele Menschen können im eigentlichen Sinne nicht denken. Sie nehmen eher zufällig Informationen auf und bewerten diese danach, ob sie zu ihren bisherigen Erfahrungen und zu ihren Wünschen passen. Außerdem spielt eine Rolle, ob sie mit einer auf dieser Basis entstandenen Meinung Gleichgesinnte finden. Ein geistiger Mehrwert entsteht so nicht."
Die Folgen der Kindheit vor dem Bildschirm glaubt Beier heute in der Gesellschaft zu erkennen: Mangelnde Lesebereitschaft und Ausdruckskompetenz, Ablehnung von Wissenschaft und Widersprüchlichkeiten; mangelnde Medienkompetenz erlaubt es nicht, gefärbte und gefälschte Nachrichten zu erkennen, politisches Agieren wird verhöhnt und Verschwörungstheorien verbreiten sich. Beier: "Das nur auf Reflexe trainierte Hirn – wozu übrigens viele Computerspiele beitragen – reagiert auf Bilder. Gerade in den sozialen Netzwerken lässt sich zeigen, dass Bildern geglaubt wird, selbst wenn daruntersteht, dass das Abgebildete nicht zutrifft, weil vielleicht der zeitliche Zusammenhang nicht stimmt oder eben eine Fäschung vorliegt."
Wie Wissen vermittelt werden sollte
Nach Beiers Meinung besteht die intensivste Wissensvermittlung im Erfahrungen machen – das sei allerdings, wie er lachend meint, manchmal zugleich die teuerste Form. Grundlegend wichtig sei, alle Wissensgebiete zu vernetzen und so die Entdeckung zu erlauben, wie etwa Kunst, Mathematik und Philosophie zusammenspielen.Bei der Wissenvermittlung haben analoge Methoden, meint Beier, unschlagbare Vorteile: "Es ist etwas anderes, ein Buch durchzuarbeiten, zu blättern, Exzerpte anzufertigen als zwischen Bildschirmseiten zu switchen und zum Schluss etwas auf einem Datenträger zu speichern und zu drucken." Auch die beliebten Präsentationen per Beamer kommen bei Beier schlecht weg. "Gut gemachte Präsentationen sind selten, oft sind sie textüberfrachtet und dienen dem Vortragenden nur als Stichwortzettel, wenn er nicht gleich abliest, natürlich mit dem Rücken zum Publikum." Außerdem lenke die Technik ab. Nach Beiers Erfahrungen hat der gute alte Overhead-Projektor Vorteile, bei denen ein Beamer nicht mithalten kann: "Der klassische Folienprojekt erlaubt es beispielsweise, viel flexibler auf Fragen einzugehen. Schnell eine andere Folie auflegen, Teilbereiche abdecken, von Hand skizzieren, da kann der Beamer nicht mithalten." Dabei ist Beier kein Technikfeind, doch die Geräte sollten so eingesetzt werden, dass sie ihre Vorteile und nicht ihre Nachteile ausspielen.
In Seminaren und Workshops bevorzugt Beier entsprechend klassische Flipchart-Präsentationen: "Auch hier lassen sich Präsentationen vorbereiten, vor allem viel besser hirngerecht als rein elektronische Präsentationen." Außerdem sei es wichtig, Stichworte live mitzuschreiben: "Das gesprochene Wort verfliegt und bei vielen Menschen gilt tatsächlich zum einen Ohr rein, zum anderen Ohr raus." Besonders praktisch für schnelle Notizen oder spontane Skizzen, wenn etwas hinterfragt wird, sei ein Whiteboard: "Damit erzeugt man nicht so viel Papiermüll. Wer die Inhalte festhalten will, fotografiert es einfach ab." Auch bei den Whitebords gelte: "Wichtiger als digitale Hightech-Optionen ist eine inspirierende Lernumgebung, die Lust auf Denken macht. Eine solche Lernumgebung kann durch das Ausblenden ablenkender Reize geschaffen werden oder man setzt ganz bewusst darauf, anregende Reize einzubeziehen."
Beier hält es für ausgesprochen bedenklich, dass viele Menschen heutzutage das Lernen – wohl auch als Folge eine Kindheit am Bildschirm – als Last empfinden. "Lebenslanges Lernen bedeutet doch nicht nur, an Weiterbildungen teilzunehmen. Gefragt ist eigene Initiative, schließlich war das Angebot an verfügbarem Wissen nie größer als heute." Allerdings sei es wichtig, spätestens als Jugendlicher das Lernen mit einem Ziel zu verbinden, ansonsten erlösche die Lernmotivation. "Es ist völlig sinnlos, jemanden auf eine Weiterbildung zu schicken, wenn dieser kein Ziel damit verbinden kann", so Beier. Das gelte auch für Kinder, der Spruch "Nicht für die Schule, für das Leben lernen wir" sei nicht nur viel zu allgemein, sondern außerdem falsch. Der römische Schriftsteller und Philosoph Seneca schrieb nämlich. "Non vitae, sed scholae discimus" – und das heißt zu gut Deutsch "Nicht für das Leben, sondern für die Schule lernen wir". Was dann ein weiterer Beitrag zum verbreiteten Lernfrust wäre.
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- Erstellt am 09.05.2020 - 08:29Uhr | Zuletzt geändert am 28.06.2022 - 12:51Uhr
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