Der hat gesessen und der auch: Im Nazi-KZ und im "DDR"-Zuchthaus
Schwarzenberg | Görlitz, 18. September 2015. Von Thomas Beier. "Da haben sich zwei nicht getroffen, die getroffen wurden" – so beschreibt die Webseite www.haltepunkt-erzgebirge.de eine in mehrfacher Hinsicht besondere Lesung in Jörg Beiers Atelier auf dem Schwarzenberger Ottenstein, der am Rande des Parks gelegenen alten Jugendstil-Turnhalle. Besonders deshalb, weil zwei Schicksale von Künstlern, die einfach nur frei denken und sich frei artikulieren wollten, nebeneinander gestellt wurden. Und besonders deshalb, weil der 90-jährige begnadete Autor, Schauspieler, Sprecher, Hörspiel- und Theaterregisseur Walter Niklaus als Leser gewonnen werden konnte.
Gewusst? Werner Finck stammt aus Görlitz
Anlass der Lesung am 12. September 2015 war die Buchpremiere "Aber die Gedanken sind frei - Briefe durch die Gitter".
Matthias Zwarg als Herausgeber hat in dem Buch anhand erhaltener Originaldokumente zusammengestellt, wie die Stasi – nachdem sie erkennen musste, dass anfängliche Fluchtversuchsvorwürfe jeder Grundlage entbehrten – gegen den damaligen Kunststudenten Jörg Beier eine Anklage zusammenzimmerte, um ein abschreckendes Beispiel zu liefern. Grotesk sind die Anklagepunkte, die selbst Buchkäufe im "DDR-Volksbuchhandel" (u.a. Sartre, Camus, Hesse) zum Vorwurf verdrehen, grotesk ist das erpresste "Geständnis".
Jörg Beier ist eines der seltenen Fälle von Stasi-Opfern, die ihre politische Verfolgung fast lückenlos dokumentieren können – vom Versuch eines überforderten Richters, einen "Klassenstandpunkt" in Bezug auf die Weltliteratur zu finden über Anklage und Urteilsbegründung bis hin zum erhaltenen Briefwechsel mit den Eltern während der Haftzeit und der Stasi-Überwachung bis zum Untergang des von der SED in willfähriger Kooperation mit den Blockparteien gelenkten Staatsgebildes auf dem Gebiet der Sowjetischen Besatzungszone.
Die von Walter Niklaus gewählten und gelesenen Auszüge zeigen, wie die Stasi im Zusammenwirken mit den "Justizorganen" für Leid nicht nur bei den Gefangenen sorgte, sondern auch bei deren Angehören. Wochenlange Kontaktsperren und extrem eingeschränkte Kommunikation gehörten zum Instrumentarium der Untersuchungs- und der Vollzugsorgane der SED-Diktatur (die SED firmiert heute - alter Wein in neuen Schläuchen resp. Bäuchen - als DIE LINKE).
Vielleicht hatte die Chuzpe von Jörg Beier, bei seiner Entlassung aus dem Zuchthaus Cottbus die Herausgabe seiner Briefe zu verlangen, den Strafvollzugsbediensteten überrumpelt: Entgegen aller Üblichkeiten bekam Beier seine Post ausgehändigt. Diese "Briefe durch die Gitter", die zensiert und deshalb entsprechend vorsichtig formuliert wurden, vermitteln heute ein Bild, wie der Unrechtsstaat DDR mit Überwachung, Legendenbildung, Manipulation und Erpressung in das Leben seiner Bürger eingriff, sie zu politischen Gefangenen machte unter Vorwürfen, die aus der Sicht unserer heutigen freiheitlichen Gesellschaft hanebüchen sind.
In einem Brief beklagt sich Beiers Vater beim Staatsanwalt, dass er unter einem Vorwand veranlasst wurde, seinen Sohn den Häschern des Regimes, das den "real existierenden Sozialismus" verkörperte, in die Hände zu geben. Die Mutter macht immer wieder Mut in der Ungewissheit, die über dem Schicksal ihres Sohnes schwebt. Der wiederum beschwichtigt: "Trinkt ab und zu eine guten Cognac!" und macht seinerseits Mut, die Zeit zu überstehen. Was die Eltern in ihren Briefen vom Bemühen um ihren Sohn und aus dem Alltag der Familie berichten, gehört zu den bemerkenswerten Zeugnissen des "DDR"-Alltags.
Das Buch hat das Zeug zur Pflichtliteratur für Gymnasiasten, weil es Diktatur-Geschichte aus dem unmittelbaren Erleben vermittelt und zugleich mit Dokumenten unterlegt. Es zeigt auch, wie sich Menschen unter einer Diktatur verhalten: Vom vorauseilenden Gehorsam, mit dem andere denunziert und belastet werden, weil das ja von der Staatsmacht erwartet wird, bis zu jenen, die geradlinig blieben oder zumindest vor Gericht, wie die Stasi im Abschlussbericht verärgert anmerkt, die in der Vernehmung aufgebauten Belastungen für den Angeklagten zurücknahmen.
"Ich stehe hinter jeder Regierung, bei der ich nicht sitzen muss, wenn ich nicht hinter ihr stehe."
Werner Finck
Der zweite Teil es Abends war Werner Finck (geboren 1902 in Görlitz, gestorben 1978 in München) gewidmet, dem genialen Kabarettisten, Schauspieler und Schriftsteller. Auch er hatte sein Probleme mit dem Sozialismus, sowohl mit dem nationaler wie auch mit dem internationalistischer Ausprägung, Zitat: "Was die Freiheit uns gibt, stiehlt sie dem Sozialismus, und was der Sozialismus uns gibt, stiehlt er der Freiheit." Treffender geht's wohl nicht.
Finck hatte nicht das Glück, eine Friedliche Revolution mitgestalten zu können. Nachdem er – nur wegen Machtspielchen führender Nazis – aus dem KZ entlassen wurde, nach Arbeitsverbot, Arbeit als unpolitischer Kabarettist und Ausschluss aus der Reichskulturkammer von erneuter Verhaftung bedroht war, meldete er sich freiwillig an die Front. Bei einem früheren Auftritt fragte Finck einen Gestapo-Mann, der sich Notizen zu seinem Programm machte: "Kommen Sie mit? Oder muss ich mitkommen?"
In der alten Bundesrepublik feierte Finck Erfolge, erregte freilich auch Unwillen, so bei der CSU. Finck teilt das Schicksal der meisten bedeutenden Künstler: Sie werden schnell vergessen.
Nachsatz
Manchmal wird – mit einer gewissen Verächtlichkeit – gesagt. "Der kam schon damals nicht klar und heute wieder nicht." Was in bestimmten Bereichen stimmen mag, in anderen wiederum nicht.
Ist dieser Gegensatz wirklich so verwunderlich? Die Aussage setzt in Bezug auf die Machtverhältnisse in einem Staat voraus, dass das Parteienspektrum zugleich die Problemlösungsansätze für die Gesellschaft repräsentiert. Pustekuchen – Parteien repräsentieren Machtinteressen, befeuert von Mitläufern, die froh sind, Orientierung zu erhalten und in einer Gruppe aufgeräumt zu sein. Aber Parteien repräsentieren nicht die Vielfalt gesellschaftlicher Entwicklungsansätze, geschweige denn: Vernunft.
Dennoch: Das Parteiensystem im Rahmen einer Demokratie mag nie zur Perfektion gelangen, aber es ist das in der Menschheitsgeschichte bisher am besten funktionierende System, weil ihm die Fähigkeit zur Fehlerkorrektur und zur Selbstheilung innewohnt. Wie eine Diktatur ohne Fähigkeit zu Fehlerkorrrektur endet, hat Deutschland 1945 erlebt.
Wenn Künstler und Querdenker die Parteien und ihre Machtspiele auf die Schippe nehmen, dann nur aus einem Grund: Die Demokratie im Sinne eines Sieges der Vernunft zu erhalten.
Selber lesen!
Die Gedanken sind frei - Briefe durch die Gitter
Herausgeber: Matthias Zwarg im Auftrag des Kunstzone e.V.
1. Auflage 2015, 340 Seiten
14,80 Euro zzgl. 3,50 Euro Versand,
Erhältlich online in der Freien Republik Schwarzenberg
oder in Beier's Kunst & Kneipe / Galerie Silberstein / Künstlerhaus Kafka,
Obere Schloßstraße 5, 08340 Schwarzenberg.
Das Atelier auf dem Ottenstein – mehr erfahren im Görlitzer Anzeiger:
15.11.2013: Träume, gewesen, Träume, gelesen – Lesung mit Hanjo Seißler
23.04.2013: Stephan Heym: "Aber lassen sie uns doch den Traum" - Lesung mit Franz Sodann
Schlusswort von Werner Finck
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- Quelle: Thomas Beier | Fotos: © Görlitzer Anzeiger
- Erstellt am 17.09.2015 - 22:19Uhr | Zuletzt geändert am 17.05.2022 - 07:01Uhr
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