Görlitz als aufstrebende Wirtschaftsregion

Görlitz als aufstrebende WirtschaftsregionGörlitz, 2. November 2019. Wenn man von stark steigenden Wirtschaftszahlen in Deutschland spricht, dann fallen dem Leser vermutlich in erster Linie Boomtowns wie Leipzig, München oder Berlin ein. Dennoch gibt es weniger bekannte Regionen in Deutschland die mit einer beachtlichen wirtschaftlichen Entwicklung aufwarten können. Görlitz zählt zumindest für ostdeutsche Verhältnisse zu den aufstrebenden Regionen in Deutschland.

Wenn sich Industriebetriebe entwickeln, nimmt nicht unbedingt die Mitarbeiterzahl zu. 1952 wurde der VEB Kondensatorenwerk Görlitz (Koweg) gegründet, der später aus der abgebildeten heutigen Industriebrache an der Lausitzer Neiße auf die Girbigsdorfer Straße am Stadtrand umzog. 1992 übernahm die neu gegründete Firma Electel Räume, Maschinen und mit Mitarbeitern auch Know-how und machte die Produktion auf weit geringerer Fläche produktiver
Archivbild 2011: © Görlitzer Anzeiger
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Wo liegen die Hemmschuhe für Produktivität und Löhne?

Wo liegen die Hemmschuhe für Produktivität und Löhne?
Ein weiteres Beispiel für den industriellen Wandel in Görlitz sind die Hallen der ehemaligen Richard Raupach Maschinenfabrik und Eisengießerei Görlitz GmbH, nach der Enteignung im Jahr 1946 seit 1948 als VEB KEMA Fabrik für Keramikmaschinen Görlitz firmierend. Nach zwei Eigentümerwechseln seit 1990 ist das seit 1878 im Maschinenbau für die Tonindustrie angesammelte Know-how in die 2013 in Görlitz gegründete, um Dimensionen kleinere, aber marktfähige ECT-KEMA GmbH mit Sitz in Girbigsdorf bei Görlitz eingeflossen
Archivbild 2007: © Görlitzer Anzeiger

Wer sich nun verwundert die Augen reibt, sollte sich die die Entwicklung der Arbeitslosenstatistik für Görlitz im Vergleich zum Vorjahresmonat (Stand zum Datum des Artikels: Berichtsmonat Oktober 2019) anschauen: Der positive Trend ist unverkennbar, denn die Zahl der Arbeitslosen ist binnen Jahresfrist um 815 auf nun insgesamt 8.955 gesunken, auch die Unterbeschäftigungsquote hat sich – um 906 auf jetzt 12.496 Personen – verringert.

Natürlich sind die aktuellen Zahlen bei aller erfreulicher Tendenz noch kein Grund zum Jubeln, inbesondere die Langzeitarbeitslosigkeit mit ihren sozialen Folgeproblemen bleibt eine Herausforderung. Unternehmen als Arbeitgeber können hier nur bedingt gegensteuern, weil die Nachfrage nach Spezialisten bei allen Qualifizierungsbemühungen aus den örtlichen Ressourcen nicht gedeckt werden kann. Eine Diskrepanz tut sich auf: Was nützt im Unternehmen eine leistungsfähige softwaregestützte Ressourcenplanung mit einem ERP-System, wenn es an den human resources mangelt? Auf die Frage "Was ist ERP?" wird noch einzugehen sein.

Zunächst aber eine andere Überlegung. Wenn in Görlitz Spezialisten gesucht werden und die Stadt für verfügbaren und preiswerten Wohnraum sowie eine hohe Lebensqualität bekannt ist: Woran liegt es, dass Experten, die für einen Arbeitsplatz durchaus gewillt sind, umzuziehen, nicht mit wehenden Fahnen nach Görlitz kommen? Hier dürften zwei Faktoren ins Spiel kommen. Zum einen ist das niedrige Lohnniveau in der Oberlausitz anzuführen, wichtiger aber noch ist etwas ganz anderes: Wer als Spezialist einen Arbeitsvertrag in Görlitz unterschreibt, hat im Hinterkopf, dass dieser heutzutage in aller Regel nicht bis zur Rente erhalten bleibt. Wenn aus welchem Grund auch immer – Entlassung oder Karriere – irgendwann ein neuer, möglichst besserer Arbeitsplatz in der Region Görlitz gefragt ist, sind die Chancen in vielen Branchen sehr gering. Vor allem, wer zwischenzeitlich eine Familie gegründet hat, für den dürfte sich ein erneuter Umzug in eine andere Region Deutschlands nun schwieriger gestalten. Deshalb bleiben hochqualifizierte Arbeitnehmer lieber in den Ballungszentren, wo die Auswahl an interessanten Arbeitsplätzen deutlich größer ist.

Was gibt es über Görlitz Positives zu berichten?

Dennoch: Görlitz ist als Lebensmittelpunkt attraktiv. Auf die reiche Natur in der abwechslungsreichen, die Stadt umgebenden Landschaft schauen die Einwohner anderer Städte wie beispielsweise Halle (Saale) mit Neid. Die deutsch-polnische Europastadt Görlitz-Zgorzelec entwickelt sich zum kulturellen Schmelztiegel, Unternehmen in der Region setzen immer mehr auf polnische Mitarbeiter. Die sehr gute Infrastruktur der Stadt wird ergänzt um die Tatsache, dass Görlitz keine typische Industriestadt wie zum Beispiel Chemnitz oder Zwickau ist. Zwar gibt es für die lokale Wirtschaft bedeutsame Industrieunternehmen und in den Gewerbegebieten stehen die Zeichen auf Wachstum, doch Görlitz brilliert mit seiner fast komplett restaurierten Altstadt, abwechslungsreicher Architektur, Parks und Kultur.

Die guten Lebensverhältnisse in Görlitz wichtig, denn auch dadurch kommen neue Einwohner in der Stadt, ob nun als Pensionäre oder ob sie für die Betriebe vor Ort tätig werden wollen. Nach und nach zieht in Görlitz das ein, was die Franzosen l’art de vivre und die Deutschen leicht daneben savoir-vivre nennen: die Kunst, zu leben. Besonders wer das Glück hat, in der Innenstadt zu arbeiten oder zu wohnen, kann nach Betriebsschluss in einem der Cafés oder in einem Pub den Übergang in den Feierabend zelebrieren. In der historischen Altstadt bieten die aus vielen Reportagen bekannten Gebäude aus den unterschiedlichen Stilepochen auch eine faszinierende Kulisse. Einen guten Job mit produktiver Arbeit zu erfüllen, dazu gehört es halt, sich in einer Stadt wohlzufühlen; Görlitz macht das seinen Neubürgern einfach.

Welche Betriebe siedeln sich in Görlitz an?

Da hat die Görlitzer Wirtschaftsförderung, die Europastadt GörlitzZgorzelec GmbH, ein gutes Händchen, denn besonders auffallend bei den Betriebsansiedlungen sind Unternehmen mit einem technischen Schwerpunkt. Auch stellt eine erstaunlich hohe Anzahl von Unternehmen Software her, so auch für die Vereinfachung von betrieblichen Prozessen.

Interessant im Softwarebereich ist für Unternehmen zum einen alles, was den Workflow einfacher, schneller und zuverlässiger macht und weitestgehend automatisiert. Dazu gehört auch Software, die die Verfügbarkeit und Auslastung aller betrieblichen Ressourcen optimiert: die erwähnten ERP-Systeme. Wer sich noch fragt, was ist ERP, dem sei kurz erklärt: Es handelt sich um Informationssysteme, mit der sich die Verwaltung von unternehmerischen Prozessen vereinfacht wird. Ein innovatives ERP Konzept schafft es, alle Abteilungen und Funktionen eines Unternehmens miteinander zu verbinden, wodurch die Kommunikation vereinfacht oder automatisiert wird. Es lassen sich positive Effekte alle betrieblichen Bereiche wie die Produktion, Den Einkauf, die Angebotserstellung und den Verkauf oder auch für den Warenversand aus der Nutzung von ERP Software ableiten. Es verwundert daher auch nicht, dass man ERP Softwarelösungen insbesondere in Produktionsunternehmen vorfindet. Allerdings werden sie heute in nahezu allen Branchen verwendet, um Bestellvorgänge zu vereinheitlichen und den gesamten Geschäftsprozess effizienter zu gestalten.

Geringe Produktivität als Hauptproblem

Was das mit Görlitz als aufstrebender Wirtschaftsregion zu tun hat? Offen gesagt: Von einer relativ schlechten Ausgangsbasis aufzustreben ist nicht so schwierig, als vom jetzt erreichten Niveau weiter voranzukommen. Erst Anfang März 2019 sorgte eine Studie des Leibnitz-Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) für Furore, nach der ostdeutsche Betriebe eine um rund 20 Prozent geringere Produktivität als westdeutsche haben. Im Ländervergleich ist das westdeutsche Schlusslicht Saarland noch immer produktiver als das beste ostdeutsche Flächenland – und das, obwohl die Westdeutschen bei höheren Löhnen weniger arbeiten; in der Stadt Görlitz als Schlusslicht erreichen die Arbeitnehmer im Schnitt nicht einmal 70 Prozent des durchschnittlichen westdeutschen Lohnniveaus. Wie kommt das? Ein Rolle spielen die zu wenigen hochproduktiven Großbetriebe im Osten, die zudem in Forschung und Entwicklung investieren. So gesehen kann der Osten als "verlängerte Werkbank" gar nicht so produktiv werden wie der Westen. Ein weiterer Einflussfaktor ist die Förderpolitik, die lieber publikumswirksam das Entstehen von Arbeitsplätzen bezuschusst als die Förderung von Produktivität, die auf den ersten Blick Arbeitsplätze vernichtet. "Wer nur die Arbeitsplätze im Blick hat, verzerrt das magische Dreieck aus Niedriglohn, langen Arbeitszeiten und geringer Produktivität immer mehr in Richtung ausbleibender Wettbewerbsfähigkeit", warnt der Markersdorfer Unternehmensberater Thomas Beier und fordert schon seit vielen Jahren: "Wir müssen teurer werden!" Als Voraussetzung dafür könnten aus seiner Sicht nur hochproduktive Unternehmen, die gute Preise erzielen, höhere Löhne bei zugleich geringerer Arbeitszeit zahlen und damit nicht zuletzt für ein höheres Aufkommen an Lohn- und Gewerbesteuer sorgen.

Hinzu komme der Denkfehler in der ostdeutschen Wirtschaftsförderung, so Beier, vor allem auf produzierende Unternehmen zu setzen, Mehrwert könne man ja auch mit geistiger Arbeit erzeugen. Beier: "Mit Industrie 4.0, besser gesagt mit der Arbeitswelt 4.0 und künstlicher Intelligenz, gehen Industriearbeitsplätze eher verloren als dass welche hinzukommen. Wer in diesem Trend auf Industrie als Kern der Wirtschaft setzt, stellt womöglich das lokale Wirtschaftsgefüge auf tönerne Füße." Für die Politik, die ihr Wahlvolk bedienen muss und sich deshalb für gut bezahlte Industriearbeitsplätze einsetzt, ist es freilich keine Option, die Industrie in den ländlichen Räumen des Ostens aufzugeben, weshalb hier weitere Fördermillionen versickern und den nötigen wirtschaftlichen Wandel verzögern werden. Das Gute daran: Im Osten sind die Unterschiede zwischen Stadt und Land (noch) nicht so groß wie im Westen. An einer Stelle stellt sich der Osten jedoch selbst ein Bein: Die verbreiteten Ressentiments gegenüber Ausländern behindern den Zuzug von Fachleuten aus dem Ausland, die gehen lieber in den Westen, was dessen Produktivität weiter stärkt.

Die IWH-Studie spricht neben den unproduktiven Industriearbeitsplätzen im ländlichen Raum, die auf Dauer nicht zu halten seien, vom zu gering entwickelten Dienstleistungssektor. Der allerdings bedarf eines blühenden urbanen Umfelds, denn in den Städten werden pro Kopf mehr Dienstleistungen nachgefragt als auf dem Land: Wo die nächste Pizzeria 20 Kilometer entfernt ist, wird es mit der spontanen Bestellung sowohl für den Kunden als auch für den Anbieter schwierig.

Produktivität spaltet Deutschland nicht generell

Insgesamt aber reduziert sich die Produktivitätsfrage nicht auf ein Ost-West-Problem: In manchen westdeutschen Regionen ist die Arbeitslosigkeit höher als im Osten, ebenso ist das Lohnniveau in manchen westdeutschen Regionen nicht höher. Wer im Osten jammert, sollte das vorm Weiterjammern zur Kenntnis nehmen.

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  • Erstellt am 02.11.2019 - 05:53Uhr | Zuletzt geändert am 03.11.2019 - 08:39Uhr
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