Der Fall Siemens Görlitz

Görlitz, 30. November 2017. Von Thomas Beier. Der drohende Personalabbau in den beiden wichtigsten Görlitzer Industrieunternehmen, bei Bombardier und vor allem bei Siemens, wo in einigen Jahren das Werk ganz geschlossen werden soll, hat von der IG Metall befeuerte Proteste ausgelöst. Dazu sind Görlitzer Siemensianer bis nach Berlin gefahren, demonstrieren auch in Görlitz immer wieder, gestern bildeten sie dort gemeinsam mit anderen Leuten eine Menschenkette.

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Protestieren ja – aber wer erarbeitet mögliche Lösungen?

Jeder Industriearbeitsplatz ist wichtig für Görlitz - für die Beschäftigten, für Zulieferer und Dienstleister, den Einzelhandel, die Kultur. Dennoch erscheint die Reaktion vieler Akteure, die nun für das Siemens-Turbinenwerk in Görlitz kämpfen wollen (sich aber gegen das Siemens-Management wenden) wie ein Schaulaufen, bei dem es nur um die B-Note geht – eine der wenigen Ausnahmen: der parteilose Görlitzer Oberbürgermeister Siegfried Deinege, der als erfahrener Industriemanager weiß, wovon er redet.

Womöglich sind die hochkochenden Emotionen rund um die beabsichtigte Schließung jedoch ein Spielball für Siemens, um den Standort schließlich doch noch fördermittelgeschmiert und selbstredend aus sozialer Verantwortung und wegen seiner Bedeutung für die Region zu erhalten. Diesen Braten riecht wohl der Landtagsabgeordnete Sebastian Wippel von der AfD: Mit seiner Forderung, Siemens müsse ein Zukunftskonzept für Görlitz vorlegen, verbindet der die Frage nach den Rahmenbedingungen, die Siemens dafür braucht. Thomas Baum hingegen, der für die SPD im Landtag sitzt, wirft der Görlitzer AfD vor, sich noch im Wahlkampfmodus zu befinden, spricht von "Steinzeit-Kapitalismus", von "geschlossen zusammenstehen", "gemeinsam für die Region kämpfen". Die Linkspartei in Gestalt von Landtagsmitglied Rico Gebhart und der Landesvorsitzenden Antje Feiks macht auch Vorwürfe, nämlich der sächsischen Wirtschaftspolitik wegen Einfallslosigkeit vor und fordert einen konkreten Maßnahmenkatalog für die Wirtschaftsförderung in der Lausitz. Die CDU hatte gar versucht, Siemens-Chef Joe Kaeser nach Görlitz einzubestellen und Ministerpräsident Tillich sagte:"Hier Stellen zu streichen, wäre nicht nachvollziehbar. Es sei denn, niedrigere Einkommen und damit deutlich niedrigere Abfindungen an den ostdeutschen Standorten würden das entscheidende Kriterium beim Personalabbau bilden." Im Bundestag verwiesen CDU und FDP darauf, dass Siemens nicht nur Stellen streiche, sondern in anderen Bereichen in diesem Jahr 5.000 neue Stellen schaffe – dem gegenüber stehen die beabsichigten 3.000 Streichungen in Deutschland in den kommenden Jahren. Die von dem möglichen Verlust ihres Arbeitsplatzes betroffenen Siemens-Mitarbeiter selbst äußern sich laustark mit Trillerpfeifen und Blechtrommeln, deren Rhythmus allerdings kein Lösungsansatz zu entnehmen ist; diesen Job müssen ja auch andere machen.

Wer sich an der Ist-Situation orientiert und pragmatisch denkt, erntet jedoch schnell Gegenwind. Den verspürte die SUPERillu-Autorin Antje Hermenau, nachdem sie in einem Interview des Mitteldeutschen Rundfunks gesagt hatte, mit Siemens über den Erhalt von Fabriken zu reden sei Zeitverschwendung, besser sei eine Stärkung des Mittelstands, der im Gegensatz zu international agierenden Großkonzernen regionale Verantwortung übernehme. Womöglich hat sie damit den Finger in die Wunde gelegt: Landkreis und Stadt Görlitz haben sich stets gern in prestigeträchtigen Wirtschaftsansiedlungen wie beispielsweise die der SKAN AG im Görlitzer Ortsteil Hagenwerder im Görlitzer oder von BORBET in Kodersdorf gesonnt. Der örtliche Mittelstand wurde eher auf den Dienstweg geschickt, das Beispiel Markersdorf, wo das potente Gewerbegebiet trotz allem Fördermittelgetöse auch in den nächstliegenden Jahen nicht ans schnelle Internet angeschlossen wird, spricht Bände. Hier überlegen die Unternehmer nun, eine ungewöhnliche privatwirtschaftliche Lösung anzugehen. Der Gesamteindruck ist: Je kleiner das Unternehmen, so unwichtiger – man stelle sich vor, ein Landwirt sagt: um kleine Pflanzen kümmere ich mich nicht so sehr, die kann ich ja nicht ernten.

Görlitz selbst bekommt die Quittung für die Kräftekonzentration auf die Tourismuswerbung. Davon profitieren vor allem die Gastronomie und das Beherbergungsgewerbe, Kultureinrichtungen und Einzelhandel. Zwar ist die steigende Bekanntheit der Stadt – nicht zuletzt auch als Filmstadt Görlitz – auch für die Wirtschaftsförderung hilfreich, jedoch weiß jeder Lebenskünstler: Allein von Berühmtheit kommt noch lange keine Butter aufs Brot.

Erfahren Sie mehr zum Thema Siemens im Görlitzer Anzeiger!
17.11.2017: Görlitzer Oberbürgermeister zu Siemens
16.11.2017: Siemens Görlitz: aus
09.11.2017: Siemens Görlitz: Weiter und wie?
20.10.2017: Verlässt SIEMENS Görlitz? So reagiert die Politik

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  • Quelle: Thomas Beier | Foto Siemens-Kiste: Matthias Wehnert, Zeitungsausschnitt: Quelle SUPERillu.
  • Erstellt am 30.11.2017 - 10:39Uhr | Zuletzt geändert am 30.11.2017 - 14:00Uhr
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