Zum 70. Geburtstag einer Musik
Görlitz-Zgorzelec. Wir wachsen beständig. Auch wenn wir äußerlich erwachsen sind, ist unser inneres Wachstum, das der Persönlichkeit nämlich, nicht beendet, schreitet fort, solange wir bei Bewußtsein und am Leben sind. Die Außenwelt ist an diesem Erweitern, dem Aufblühen unserer Innenwelt, wesentlich beteiligt, kann es jedoch auch behindern, lähmen, beenden im schlimmsten Fall: durch Angst, Not, Qualen und Schmerzen beispielsweise oder Armut, Krieg, Gefangenschaft. Doch selbst diese Bedrohungen vermag unsere Persönlichkeit so zu überwinden, daß sie sich vielleicht gerade daran in unvorhersehbarer Weise aufrichtet. ODYSSEE und ILIAS stammen von einem blinden Dichter, der größte Teil Beethoven'scher Werke von einem ertaubenden, am Ende seines Lebens gehörlosen Komponisten, Bach hat seine letzte, bewegende Melodie als Sterbender diktiert. Auch das im StaLag VIIIa vollendete QUARTETT AUF DAS ENDE DER ZEIT schuf Olivier Messiaen unter Hunger und Kälte leidend als Kriegsgefangener in Görlitz im Winter 1940/41. Am 70. Geburtstag dieser Musik, deren Spannkraft und ins Außerzeitliche gerichtete Zuversicht nicht das Mindeste eingebüßt haben, erfolgt eine Aufführung im Zelt auf dem Gelände des ehemaligen Kriegsgefangenenlagers am südlichen Stadtrand des heutigen Zgorzelec.
Musik als etwas, das sich in uns entfaltet
Thema: Meetingpoint Music Messiaen
Der MEETINGPOINT MUSIC MESSIAEN e.V. will auf beiden Seiten der Lausitzer Neiße die Geschichte des Kriegsgefangenenlagers Stalag VIIIa wieder bewusst machen. Bezugsperson ist der französische Komponisten Olivier Messiaen (1908-1992), der als Kriegsgefangener hier war. Der Meetingpoint organisiert internationale Jugendbegegnungen, musikpädagogische Projekte und erforscht die Geschichte des Lagers.
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Diese zeitlose Musik, die gegen äußere Widerstände in den Bereich der allen Menschen immer zur Verfügung stehenden unbesiegbaren Kräfte führt, wird aufgeführt durch Shelly Ezra (Klarinette), Franziska Hölscher (Violine), Peter-Philipp Staemmler (Violoncello) und Alexander Schimpf (Klavier). Zuvor dirigiert Jörg Genslein den Thüringischen Akademischen Singkreis bei a-capella-Werken von Francis Poulenc, Olivier Messiaen und Clytus Gottwald.
"Erleben Sie, wie dieses Zelt mitten im Winter durch die Musik und trotz der äußeren Umstände zu einem Gewächshaus wird für das, was in uns sich unablässig entfaltet, auch in Schwerem und Schwierigem, lebenslang", so Dr. Albrecht Goetze vom MEETINGPOINT MUSIC MESSIAEN.
Zum Konzert wird (falls die Wettersituation das ermöglicht) die erste von zu den acht Sätzen des QUARTETT geschaffenen Edelstahlskulpturen des Metallbildhauers Matthias Beier im Bereich der ehemaligen Theaterbaracke aufgestellt, in der Henri Akoka, Jean le Boulaire, Étienne Pasquier und Olivier Messiaen das Werk am 15. Januar 1941 vor etwa 400 Mithäftlingen und den Deutschen Bewachern erstmals aufführten.
Programm:
- Francis Poulenc (1899 – 1963) Timor et tremor / Tenebrae factae sunt / Tristis est anima mea, aus: Quatre motets pour un temps de penitence
- Olivier Messiaen (1908 - 1992) O sacrum convivium
- Clytus Gottwald (*1925) Louange à l’Éternité de Jésus, aus: QUARTETT AUF DAS ENDE DER ZEIT, 5. Satz, für 19 Stimmen bearbeitet
Thüringischer Akademischer Singkreis TASK, Leitung: Jörg Genslein
Pause
- Olivier Messiaen QUARTETT AUF DAS ENDE DER ZEIT
Shelly Ezra, Klarinette
Franziska Hölscher, Violine
Peter-Philipp Staemmler, Violoncello
Alexander Schimpf, Klavier
Prädikat: Unbedingt hingehen!
Sonnabend, 15. Januar 2011, 19 Uhr,
im Zelt auf dem Gelände des ehemaligen StaLag VIIIa am südlichen Stadtrand von Zgorzelec in Richtung Koschmin (Koczmin)
Bus-Shuttle um 18:00 und um 18:30 Uhr vom Demianiplatz in Görlitz und nach dem Konzert zurück.
Karten an allen üblichen Vorverkaufsstellen und an der Abendkasse.
Mehr:
http://www.messiaen.themusicpoint.net
Ein kurzer und 13 längere Sätze zum 70. Geburtstag von Olivier Messiaens QUARTETT AUF DAS ENDE DER ZEIT am 15. Januar 2011
Von Dr. Albrecht Goetze
Musik altert nicht. Genau so wenig wie die Zeit, die Dimension, in der sie sich entfalten kann, wieder und wieder, und immer erneut. Raum und Zeit sind nur ihr Ereignisort, in dem sie, wie alles, was wir erleben, für uns wahrnehmbar wird. Alles uns Schöne, aber auch Schreckliche, selbst das Entsetzlichste, unser Vorstellen Übersteigende, kann sich in dieser ZeitArena abspielen oder von uns getan werden. Obwohl deren Grenzen für uns nicht unmittelbar zu erkennen sind, ist sie wie ein Verließ, das wir nicht verlassen können, so scheint es; gefangen also in Raum und Zeit.
Gerade jedoch in Situationen, denen wir nicht entkommen können oder spätestens in tiefer Not, unter peinigendem Schmerz, in aussichtsloser Verzweiflung oder angsterfüllter Todesnähe - als scheinbar in unentrinnbarem Geschehen Gefangene, entdeckt sich wie ein uns zugeworfenes Tau eine Kraft, deren sich die meisten Menschen bis dahin nicht bewußt sind (obwohl wir ohne sie nicht existieren können): die Vorstellungskraft. Sie ist Fallreep und Energie in einem, um dieser ZeitArena zu entsteigen, dem Geschehen, in dem wir gefangen scheinen, zu entweichen.
Olivier Messiaen ist e i n Künstler, an dessen Handeln als Kriegs-Gefangener im StaLag VIIIa in Görlitz, das exemplarisch deutlich wird, in der für unsere Sinne so einprägsamen Einheit von Ort, Zeit und Geschehen. Sein dort vollendetes und am 15. Januar 1941 uraufgeführtes QUARTETT AUF DAS ENDE DER ZEIT macht in einzigartiger Weise klar, was jeder Mensch weiß: in uns ist eine ALLEM überlegene Kraft, das Nadelöhr, durch das wir dem Gefängnis entkommen können, in das uns unsere Sinne binden; jedem Gefängnis. Seine Musik, wie alle Musik, wie alle Kunst, geleitet uns in die Region dieser Kraft, die uns allem gewachsen sein und alles überwinden läßt. Und es ist auch genau diese Kraft, vor der der scheinbar unbesiegbare Faschismus am 8. Mai 1945 bedingungslos kapituliert hat. Das QUARTETT AUF DAS ENDE DER ZEIT macht sie hörbar und ist wie bei seiner Geburt vor 70 Jahren erfüllt von dieser allen Menschen zugänglichen, Not wendenden und notwendigen Kraft. Denn die Mächte, die damals der Welt, in der sich Leben entwickeln darf, ein Ende zu setzen drohten, sind nicht von der Erde verschwunden, sie haben sich nur anders, geschickter getarnt.
In diesem Sinne ist das QUARTETT Olivier Messiaens, obwohl 1941 in tiefer Not zum ersten Mal gespielt, JETZT-MUSIK; so essentiell notwendig wie Kunst immer - JETZT wie 1941.
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- Quelle: red | Dr. Albrecht Goetze
- Erstellt am 30.12.2010 - 04:05Uhr | Zuletzt geändert am 27.06.2018 - 07:58Uhr
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