Wolf Biermann – Benefizkonzert für einen Knast
Cottbus / Chóśebuz, 5. September 2012. Von Thomas Beier. Das dürfte weltweit einmalig sein: Gefängnisinsassen kaufen ihr eigenes Gefängnis. So geschehen im ehemaligen Zuchthaus Cottbus, wo politische Gefangene des DDR-SED-Regimes einen Verein gegründet haben und ein Menschenrechtszentrum etablieren. Und weil das Geld kostet, ist Wolf Biermann, als Poet und Liedermacher im besten Sinne Aufklärer über die sowjetzonalen Zustände, am 4. September 2012 nach Cottbus gekommen und hat in der Produktionshalle, wo die Gefangenen Teile für die PENTACON Kameras stanzten, noch einmal ein dankbares Publikum auch für seine alten Lieder gewonnen. Zuvor hatte er am Nachmittag die Ausstellung im Zuchthaus eröffnet und sich gemeinsam mit Roland Jahn, dem Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen, von Schriftsteller Siegmar Faust, zugleich Geschäftsführer des Menschenrechtszentrums Cottbus e.V., vom Leben im DDR-Knast berichten und die Zellen und die "Tigerkäfige" genannten Strafzellen im Keller zeigen lassen.
"Wer heut´ noch hoffen macht, der lügt! Doch wer die Hoffnung tötet, ist ein Schweinehund." (Biermann)
Thema: Menschenrechte
Menschenrechte sind weltweit Thema. Die Erinnerung an die "sozialistische Rechtsprechung" und das SED-Unrecht sowie die vorangegangene Nazi-Diktatur mahnen, auch in Deutschland Menschenrechte und Demokratie nicht als selbstverständlich hinzunehmen, sondern immer wieder dafür einzutreten.
Faust dürfte Rekordhalter für Einzelhaft im Tigerkäfig sein: Mehr als 400 Tage - der Preis für seine Nicht-Anpassung an das Zuchthaus-Regime. Schließlich wurde er - auch mit Hilfe Biermanns - in den Westen freigekauft. Ohne dies zu wissen: "Die haben mich völlig überraschend entlassen wegen guter Führung", erzählt Faust sinngemäß, "und dann stand ich vor dem Gefängnistor mit einem Pappkarton unterm Arm und fünf Mark Taschengeld und dachte, von wo kommt die Kugel, jetzt wollen sie Dich auf der Flucht erschießen."
Insgesamt sind die Berichte der Häftlinge widersprüchlich. "Eigentlich war kaum einer länger als eine Woche im Tigerkäfig", berichtet ein anderer Ex-Häftling. Während die einen von prügelnden Aufsehern berichten, sagen andere, das hätten sie so nicht erlebt. Da muss man schon aufpassen, dass in der sich verzerrenden Erinnerung nicht untergeht, was heute als Lektion aus der DDR-Machtausübung erhalten werden muss: Die Details der Umstände der politischen Verfolgung in der DDR.
Verhaftet zu werden für einen Witz, wegen einer Denunziation oder für das Verborgen eines – politisch ungenehmen – Buches. Ausgeliefert sein einer parteilichen Justiz, die erst die Schuld zuweist und dann ermittelt. Eine Staatsgewalt, die an Einzelnen ein Exempel statuiert, ein abschreckendes Beispiel schafft, das durch gezieltes Streuen von Gerüchten in deren Umfeld auch noch akzeptiert wird. Die völlige Unklarheit der Gefangenen über ihr Schicksal, die Ohnmacht, einem in dieser Situation scheinbar allmächtigen Regime ausgeliefert zu sein.
Und mittendrin unter den früheren politischen Gefangenen Wolf Biermann, nur auf den ersten Blick eine widersprüchliche Persönlichkeit, bei näherem Hinsehen in seinem Lebensweg höchst menschlich. Jahrgang 1936, aufgewachsen in Hamburg, der Vater Jude und kommunistischer Widerstandskämpfer, im KZ umgebracht, die Mutter Kommunistin. 1953 geht er in die DDR, wo er schnell zwischen dem Regime und den kommunistischen Idealen zu unterscheiden beginnt. Geprägt von Hanns Eisler attackiert Biermann in Versen und Liedern mit Geist und Witz den real existierenden Sozialismus, die Führungsriege und ihre Parteigänger.
Biermann hat die Intelligenz und die Kraft, die Widersprüchlichkeit seines deutsch-deutschen Lebenslaufs auf der Bühne zu kultivieren. Er, der frühere Kommunist, dem die SED einst die Aufnahme verweigerte, der sich erst viel später von einem guten Freund den "kommunistischen Zahn" ziehen ließ, redet nichts schön, aber erzählt von der Prägung durch das Elternhaus, von Standhaftigkeit und Veränderung, und vom schmerzhaften Ziehen dessen, was er eben seinen kommunistischen Zahn nennt: "Der hatte Wurzeln, die reichten bis in mein Gehirn."
So war das abendliche Konzert in Cottbus womöglich für Biermann eine Zäsur: Noch einmal konnte er die alten Lieder singen, vor jenen, deren Kollision mit der DDR ihre Lebensläufe geknickt hat, die mit Namen wie Paul Verner und Horst Sindermann noch etwas anfangen können. Sein neues Programm, das er gemeinsam mit seiner Frau Pamela vorbereitet, wird internationale Musik aufgreifen, die er ins Deutsche übersetzt hat.
Wie sang er doch gleich? "Nur wer sich ändert, bleibt sich treu.“
So ist es.
Weitere Informationen in der Bildergalerie.
Der Görlitzer Anzeiger berichtete:
8. August 2012: Wolf Biermann kommt ins Zuchthaus Cottbus
15. Juni 2011: Menschenrechtszentrum Cottbus diskutiert "Diktaturen der Welt"
10. Januar 2012: Künstler vom Cottbusser Knast
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- Quelle: Text und Fotos: Thomas Beier
- Erstellt am 05.09.2012 - 09:24Uhr | Zuletzt geändert am 05.07.2022 - 10:06Uhr
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