Ein Buch beschreibt, wie die Heimat schwindet

Ein Buch beschreibt, wie die Heimat schwindetGörlitz, 9. Februar 2019. Von Thomas Beier. Mit Buchempfehlungen ist das so eine Sache: Oft trifft der Empfehler nicht das, was den Leser fesselt. Tragik setzt ein, wenn der Leser dann auch noch ständig gefragt wird, ob er‘s denn nun endlich durch hat, um letztendlich noch in gelehrige Gespräche über den Lesestoff verwickelt zu werden. Im Laufe der Jahre und Jahrzehnte neigt man häufiger zum Irrtum, ziemlich tief zum Grund der Dinge vorgestoßen zu sein und übersieht dabei leicht, dass Neues in das eigene Bild der Welt integriert sein will. In der Literatur ist es die Aufgabe junger Autoren, unbelastet von allzu großer Lebenserfahrung ihre Welt zu beschreiben. Einer von denen ist Lukas Rietzschel, ein 1994 in Räckelwitz bei Bautzen geborenes und in Görlitz lebendes Provinzkind.

Abbildung: Neschwitz / Njeswačidło, Ort der Romanhandlung, stellvertretend für viele Orte
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Lukas Rietzschel: Mit der Faust in die Welt schlagen

Rietzschel hat seinen 2018 bei Ullstein erschienenen Roman "Mit der Faust in die Welt schlagen" in der sächsischen Provinz angesiedelt. Gegliedert in drei Bücher (2000 bis 2004, 2004 bis 2006, 2013 bis 2015) beschreibt er die Erosion der Gesellschaft, wie sie im östlichen Teil Sachsens flächendeckend als Fremdenfeindlichkeit und rechte Gesinnung großer Bevölkerungsteile zu Tage tritt.

Woher das kommt? Auf Vorgeschichte, die zwar erklärt, aber nichts an der Situation ändert, verzichtet Rietzschel. Zur Vorgeschichte gehören die häufig naiven Wohlstanderwartungen an die deutsche Wiedervereinigung, die sich für den Teil der „Wir sind ein Volk!“-Rufer, der von der Arbeit befreit wurde, nicht erfüllt haben – was sie nach Jahren des Geparktwerdens in ABM und ziellosen Weiterbildungen schließlich erkennen mussten. Ihr Anker blieb die Erinnerung, die in der Trostlosigkeit der stillgelegten Betriebe endet. Sie wurden nicht Teil der neuen Leistungswelt.

Hier, im Jahr 2000, zehn Jahre nach der Wiedervereinigung, setzt Rietzschel an. Er beschreibt, wie zwei Brüder in die Perspektivlosigkeit ihres Umfeldes hineinwachsen, ein Umfeld, das unter der Etikette "Ich bin doch kein Nazi!" doch genau diese gedeihen lässt. Die Brüder reagieren unterschiedlich. Als der Migrantenstrom, damals noch Flüchtlinge genannt, einsetzt, findet die Wut des einen ihr Ziel.

Rietzschel beschreibt in einer Sprache, die Momentaufnahmen gleicht. Das ist nichts geglättet, die Worte scheinen gebrochen zu fließen so wie das Leben, von dem sie berichten. Sein Roman ist das Gegenstück zu den tatsächlichen und zu den hochstilisierten Erfolgsgeschichten des Wandels in Ostsachsen, dort, wo Brandenburg nicht weit ist.

Das Buch war eine Leseempfehlung von Jana Krauß, die auf der Görlitzer Brüderstraße ihre Buchhandlung Art Goreliz samst Antiquariat, Lektorat und Korrektorat betreibt. Sie hat immer ein gutes Händchen mit ihren Lesetipps (und sie kontrolliert nicht, wie eingangs beschrieben, ob das Buch wirklich gelesen wurde). Weitergeben möchte ich die Leseempfehlung an alle, die nicht verstehen, weshalb sich gerade in Sachsen Fremdenfeindlichkeit und ein dumpfes Nationalgefühl wieder breitmachen. "Mit der Faust in die Welt schlagen" entschuldigt nichts, beschreibt aber erstaunlich präzis den Verlust von Heimat und wie es zum heutigen Zustand unserer Gesellschaft kam.

Besonders für Politiker und verantwortliche Verwaltungsmitarbeiter sollte es Pflichtliteratur sein. Dreißig Jahre nach der Implosion der "DDR" ist es an der Zeit, deren weltanschaulich düsteres Erbe in der freiheitlich-demokratischen Gesellschaft ad absurdum zu führen; es ist das Erbe des auch in der "DDR" latent weitergelebten nazistischen Ungeistes. Immerhin waren in den Anfangsjahren der SED rund ein Drittel der Mitglieder vorher aktive Nazis (es gab ja zu wenig andere Menschen) und das "DDR"-System mit seinen vereinheitlichten Massenorganisationen, der gleichgeschalteten Presse, seiner gelebten Fremdenfeindlichkeit (man denke an die Vorbehalte gegenüber den "Fidschis" und afrikanischen Gastarbeitern und die Unfähigkeit, mit den 1973 geflüchteten Chilenen anders umzugehen als sie in die Produktion zu stecken), seiner Verfolgung Andersdenkender und seiner zunehmenden Militarisierung der Gesellschaft war dem Nazisystem zumindest ähnlich geblieben. Wie sich das vererbt, lässt Rietzschels Buch zumindest erahnen.

Empfehlung!
Lukas Rietzschel: Mit der Faust in die Welt schlagen
1. Auflage 2018, erschienen bei der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
ISBN: 978-3-550-05066-4

Stimmen zum Buch:
MDR KULTUR: Lukas Rietzschel überzeugt mit Roman über Rechtsextremismus in Sachsen
SPIEGEL ONLINE: "Man kann mit dem Osten über den Osten reden"
perlentaucher.de: Rezensionsnotizen

Mehr:
Mit Heimat – Heimatverlust und dem Finden einer Heimat – beschäftigt sich das Projekt HEYMAT, das seinen Namen in Anlehnung an den aus Chemnitz stammenden Schriftsteller Stefan Heym erhalten hat. Migranten berichten in Videos über ihre Gründe, nach Deutschland zu kommen, und es kommen weitere Persönlichkeiten zum Thema Heimat zu Wort. HEYMAT richtet sich vor allem an junge Leute und ist zur Projektarbeit an Schulen geeignet.

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  • Quelle: Thomas Beier | Foto: PaulT (Gunther Tschuch), Lizenz CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons
  • Erstellt am 09.02.2019 - 06:41Uhr | Zuletzt geändert am 24.05.2020 - 18:18Uhr
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