Landkreis Görlitz: Bleiben oder abhau'n?

Landkreis Görlitz, 25. August 2017. Im zurückliegenden Schuljahr wurden Schüler der Klassenstufen 8 bis 10 an den Ober- und Förderschulen im Landkreis Görlitz zur ihren beruflichen Absichten befragt. Auftraggeber für die Befragung war die Regionale Koordinierungsstelle für Berufsorientierung im Landkreis Görlitz. "Wir wollten eine Einschätzung der Jugendlichen bekommen, wie sie ihre Perspektiven sehen und wie sie die Angebote zur beruflichen Orientierung bewerten", so Projektleiterin Sabine Schaffer.

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Wo den Hebel wirkungsvoll ansetzen?

Zu den Befragungsergebnissen gehört, dass wahl mehr als die Hälfte der Zehntklässler aus dem Landkreis Görlitz für Ausbildung oder Studium in der Region bleiben wollen.

Die Landkreisverwaltung verweist darauf, dass sich die von ihr entwickelten Angebote etabliert haben. So wird der Ausbildungsatlas INSIDER, der in diesem Schuljahr bereits in der siebenten Auflage erscheint, mittlerweile an allen Schulen eingesetzt. Der Bekanntheitsgrad der Ausbildungsmesse INSIDERTREFF liegt in Klassenstufe 10 liege bei nahezu 90 Prozent. Dieser Erfolg sei auch zurückzuführen auf die enge und gute Zusammenarbeit zwischen Agentur für Arbeit Bautzen, Handwerkskammer Dresden, IHK Dresden und dem Landkreis.

Unangefochtener Spitzenreiter bleibe aber das Praktikum, wenn es um die Wahl von Beruf und Betrieb geht. Die Schüler brauchen den direkten Kontakt mit Betrieben, Ausbildern und Azubis, wollen sich ausprobieren und Informationen aus erster Hand. Das hilft ihnen am meisten bei der Entscheidung, welcher Beruf der richtige ist. Hilfreich ist aber auch die Berufsberatung der Agentur für Arbeit Bautzen; die Berufsberater erhalten in der Befragung gute Noten. Zu allererst setzen die Schüler aber weiterhin auf den Rat der Eltern, diese bleiben mit 83 Prozent unangefochten an der Spitze.

Ausbildung im Unternehmen nicht sonderlich attraktiv

Für die Betriebe hingegen bringen die Umfrageergebnisse eher alarmierende Zahlen: Nur rund ein Drittel der Befragten möchte eine duale Ausbildung beginnen. Statt dieser setzen viele Schüler auf weiterführende Schulen (Fachabitur) sowie auf alternativ organisierte Ausbildungen unter anderem im Gesundheits- und Sozialwesen sowie bei der Landes- und der Bundespolizei.

Dabei gibt es auffällige Unterschiede zwischen den Geschlechtern: Jungen streben doppelt so häufig eine betriebliche Ausbildung an, Mädchen wiederum möchten häufiger als Jungs eine weiterführende Schule besuchen. "Es sieht fast so aus, als hätte die Ausbildung im Betrieb für die Jugendlichen an Attraktivität verloren. Diesen Trend gilt es umzukehren, um die Unternehmen bei der Sicherung der Nachwuchsfachkräfte zu unterstützen", zieht Schaffer ein Fazit. Bei der Berufswahl zeigen sich die Jungen mittlerweile flexibler, denn während Mädchen weiterhin eher geschlechtertypische Berufe favorisieren, erobern die Jungen Branchen, die eher frauentypisch sind. Unter den acht meistgenannten Berufen der Jungen tauchen Gesundheits- und Krankenpfleger ebenso auf wie Erzieher. Nummer eins in dieser Kategorie ist allerdings eine Ausbildung bei der Landes- oder Bundespolizei, gefolgt von den Fachinformatiker- und Elektroniker-Berufen. Bei den Mädchen wurden am häufigsten die Gesundheitsberufe benannt. Auf Rang zwei landet die Erzieherinnen-Ausbildung. Und auch bei den jungen Frauen liegen Uniformen im Trend: Rang drei für eine Karriere bei Polizei/Bundespolizei.

Besonders Mädchen sehen Region kritisch

Neben der beruflichen Orientierung interessierte auch die Einschätzung der regionalen Lage. Den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt, die Verdienstmöglichkeiten und die wirtschaftliche Situation sollten die Jugendlichen ebenso bewerten wie Freizeitmöglichkeiten und Verkehrsanbindung. Dabei wurde deutlich, dass Mädchen die Region deutlich kritischer sehen als junge Männer. So gaben 66 Prozent der Jungen an, dass sie gute Chancen auf einen Arbeitsplatz sehen, bei den Mädchen waren es 14 Prozent weniger.

Der Trend, dass bildungswillige Frauen den Landkreis Görlitz verlassen, wird sich wohl fortsetzen: Dreimal mehr Mädchen als ihre männlichen Altersgenossen wellen weggehen. Die Berufsorientierungskoordinierungsstelle sieht hier einen Bedarf an genauen Handlungsstrategien im Hinblick auf die Angebotsausgestaltung und eine verbesserte geschlechterspezifische Kommunikation.

Gute Noten für den Landkreis

Insgesamt bekommt der Landkreis Görlitz gute Noten für sein Engagement bei der beruflichen Orientierung. Mit steigender Klassenstufe nimmt die Unsicherheit ab; In Klassenstufe 10 sagen nur sieben Prozent, dass sie nicht wissen, was sie nach der Schule machen sollen, dagegen fühlen sich mehr als 60 Prozent auf die Zeit nach der Schule gut vorbereitet. "Das ist ein schönes Ergebnis - es bleibt aber noch eine Menge zu tun", resümiert Schaffer.

An der Befragung beteiligten sich 992 Schüler, wobei das Verhältnis von Jungen und Mädchen nahezu ausgewogen war; der Anteil der Förderschüler lag bei 12 Prozent. Allerdings relativiert die Koordinierungsstelle die Befragungsergenisse: "Die Ergebnisse der Befragung beruhen auf subjektiven Einschätzungen der Schülerinnen und Schüler. Eine wissenschaftlich fundierte Einschätzung ist auf dieser Grundlage nicht möglich. Gleichwohl dient die Befragung mit ihren Ergebnissen dazu, einen fundierten Überblick über die Berufs- und Studienorientierung sowie die beruflichen Ziele der Schüler im Landkreis Görlitz zu bekommen."

Die Regionale Koordinierungsstelle für Berufsorientierung wird über den Europäischen Sozialfonds (ESF), den Freistaat Sachsen und den Landkreis Görlitz finanziert.

Download!
Auswertung der Befragung von Schülern an Förder- und Oberschulen des Landkreises Görlitz zur Berufsorientierung, Berufswahl und beruflichen Zukunft, Januar 2017 (ca. 7 MB)



Kommentar:

Eine Befragung wendet sich regelmäßig an Subjekte, die regelmäßig subjektiv antworten. Auch im vorliegenden Fall ist entscheidend, welche Informationen bei den Schülern ankommen und weshalb sie sich für einen bestimmten Bildungsweg und damit über den Verbleib in der Region entscheiden.

Allerdings muss man dann auch die richtigen Schlussfolgerungen ziehen. Wenn (Seite 31 der Auswertung) Betriebe beim Ausbildungsmarketing unterstützt werden und mittels Praktika mehr Einblick gewähren sollen, greift das zu kurz. Der wirkungsvollste Punkt, eine Lehrausbildung attraktiver zu machen, liegt noch immer in den Betrieben und Berufsschulen selbst.

Junge Leute erwarten von einer Ausbildung mehr, als nur Wissen und Fertigkeiten vermittelt zu bekommen oder gar "zurechtgebogen" zu werden (wobei man nicht unterschlagen darf, dass es auch im Landkreis Görlitz hervorragend geführte Unternehmen und Handwerksbetriebe gibt, die attraktive Ausbildungsplätze anbieten). Jedoch leidet besonders das Handwerk unter seinem traditionellen Gebaren und könnte doch viel stärker mit seinen Qualitäten punkten und damit sein Image aufpolieren: Internationaler Austausch, bei Studenten selbstverständlich, ist für die meisten Azubis Fehlanzeige. Wer Pech hat, für den wird die Lehrzeit zum Trauerspiel über die Abschaffung der Meisterpflicht in vielen Gewerken. Je kleiner der Ausbildungsbetrieb, um so stärker die persönliche Abhängigkeit von Lust und Laune des Chefs. Eine fröhliche Dokumentation aus Görlitz bringt es im Vergleich eines polnischen und eines deutschen Handwerksbetriebs auf den Punkt und schließt Betrachtungen zum Lehrling ein.

Das mangelnde Image der Handwerksausbildung hat Deutschland3000 aufgegriffen und den Film "Meister statt Master" (Moderation: Eva Schulz, Regie: Clemens Beier, Drehort Kliemannsland) produziert – der macht richtig Lust auf Ausbildung.

Wenn junge Leute zum Studium weggehen und sich von Hotel Mama und gewohnter Umgebung abnabeln, so ist das nur zu befürworten. Raus in die Welt ist die Devise! Welch armer Tropf, wer sein gesamtes Leben im gleichen Ort verbringt – er muss ja geradezu zwangsläufig seltsame Vorstellungen davon entwickeln, wie es woanders zugeht und Fremdes vor allem als Bedrohung erleben.

Für Auszubildende, die jünger in die berufsspezifische Ausbildung einsteigen, ist das mit dem Weggehen allerdings nicht ganz so einfach. Wie dem auch sei, für den Landkreis Görlitz steht die Aufgabe, Ausbildung, Studium und schließlich Arbeit für Auswärtige vor Ort attraktiver zu machen, da darf geklappert werden,

meint Ihr Thomas Beier

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  • Quelle: red | Foto Schiuhe: stevepb / Steve Buissinne, Foto Werkstatt: Pexels, beide pixabay und Lizenz CC0 Public Domain
  • Erstellt am 25.08.2017 - 06:42Uhr | Zuletzt geändert am 25.08.2017 - 08:50Uhr
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