Was nützt es, die "Erfahrung DDR" gemacht zu haben?

Görlitz, 19. September 2016. Von Thomas Beier. Wer die "DDR" erleben musste oder gar hier sozialisiert wurde, konnte sich das nicht aussuchen. So mancher hätte sicherlich auf das Leben unter der Diktatur der heutigen Linkspartei, die sich damals noch SED nannte, lieber verzichtet. Seit dem Mauerfall und der Wiedervereinigung der beiden deutschen Restfragmente ist eine Generation vergangen. Warum also sollte man sich an die "Erfahrung DDR" - so der Titel eines außergewöhnlichen Projekts des Görlitzer Kulturhistorischen Museums - erinnern?

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"Den Rest könnt Ihr wegschmeißen!"

Thema: Ausstellungen in Görlitz und Umgebung

Ausstellungen in Görlitz und Umgebung

Görlitz verfügt nicht nur über fast 4.000 Baudenkmale, sondern ist eine Stadt der Museen und Ausstellungen. Hier befinden sich beispielsweise das Kulturhistorische Museum, das Schlesische Museum zu Görlitz, das Museum der Fotografie und das Senckenberg Museum für Naturkunde, im polnischen Teil der Europastadt das Lausitz-Museum. Darüber hinaus gibt es häufig Sonderausstellungen an anderen Orten, auch im Umland der Stadt sowie in der Dreiländerregion von Sachsen, Tschechien und Polen.

Wenn die Erlebnisgeneration (also jene, die das Staatsgebilde, das auf dem Gebiet der Sowjetischen Besatzungszone nach der Gründung der alten Bundesrepublik Deutschland entstanden war, noch bewusst erlebt haben) heute hervorkramt, was an Sachen und Erinnerungen aus diesem für viele prägenden Lebensabschnitt überdauert hat, dann ist das schon mal spannend. An was wird überhaupt noch erinnert: An das häufige Schlangestehen vor den "Versorgungseinrichtungen", an die FDJ-gesteuerten Jugendveranstaltungen, die schönen Betriebsausflüge, an den Frauentag, den Frauenruheraum, an den Krippenplatz, den vor der Schicht zu erreichen die Kinder zu nachtschlafener Zeit aus den Betten gezerrt werden mussten, den FDGB-Urlaubsplatz, die Hausgemeinschaft, die Nöte bei der Ersatzteil- und Baumaterialbeschaffung, die Jagd nach Bananen wenigstens für die Kinder, die Kuba-Orangen, die politischen "Aussprachen" am Arbeitsplatz, den massiven Druck auf Schüler, sich als Berufsoffiziere zu verpflichten, den ständigen Mangel an den meisten Dingen des Alltags, nicht zuletzt auch an den Mangel an Zugang zu weltweiter Kultur, politischer Meinungsbildung und schließlich Selbstentfaltung und Entwicklung der eigenen Persönlichkeit?

Entsprechend wird die ab November 2016 im Görlitzer Kaisertrutz gezeigte Ausstellung "Erfahrung DDR" ein Spiegelbild dessen, was die Ex-"DDR"-Bürger heute, mit einem reichlichen Vierteljahrhundert Abstand, mit ihrem realsozialistischen Lebensabschnitt verbinden. Im Unterschied zu anderen Sammlungen von "DDR"-Erzeugnissen sollen in Görlitz nur Dinge gezeigt werden, zu denen der Leihgeber auch eine Geschichte erzählen kann. Dadurch entsteht neben dem unvermeidbaren Effekt der Wiedersehensfreude ("Das hatten wir auch!") ein Abbild des damaligen Erlebens - freilich verzerrt von der Beschönigung und der Verteuflung, vom Verschweigen oder ganz einfach von der Gnade des Vergessens.

Jeder ist zum Mitmachen aufgerufen!

Interessant ist, dass eine historische Einordnung und damit Wertung des Verhaltens in der "DDR" nicht stattfinden wird. Weil also Erinnerungen hier unvoreingenommen zugänglich gemacht werden, ist bereits jetzt ein breites Spektrum unterschiedlichster Bürgerinnen und Bürger beteiligt, von jenen, die 1989 als Erste mutig auf die Straße gegangen sind, bis zu den Stützen und Verteidigern des implodierten Systems.

Für manch einen ist das Kapitel "DDR" so sehr abgeschlossen, dass er es gar nicht mehr aufschlagen mag. Was schade ist, denn so ein Ausstellungskonzept wendet sich schließlich auch an jene, die nicht dabei waren, an jüngere Leute und an Besucher und heutige Bürger der Stadt Görlitz, die außerhalb des eingemauerten und eingezäunten Landes gelebt haben. Für sie besteht die Chance, in Görlitz ein differenzierteres Bild des 40 Jahre währenden Großversuchs, sich auf den Weg in eine kommunistische Gesellschaft zu begeben, zu erhalten.

Vollständig wird dieses Bild nicht werden, was sich in den Themenräume der Ausstellung widerspiegeln wird: Vielleicht bleiben einige Bereiche fast leer, während andere proppevoll sind? Dr. Jasper von Richthofen, Leiter der Görlitzer Sammlungen für Geschichte und Kultur, zu denen neben dem Kulturhistorischen Museum auch die Oberlausitzische Bibliothek der Wissenschaften gehört, betont deshalb: "Das Projekt steht und fällt mit der Teilnahme der Bürgerinnen und Bürger."

Was bleibt?

Was bleibt, wenn die Erinnerungen verblassen oder die Erlebnisgeneration ausstirbt? Dann schlägt die Stunde der Historiker, die sich allein an der gesicherten Faktenlage orientieren. Daneben wird die Legendenbildung stärker, die Geschichten, die in den Familien überliefert werden. Als Drittes schließlich wird die künstlerische Geschichtsvermittlung in den Surrealismus übergehen: Es geht dann nicht mehr darum, das Thema "DDR" historisch korrekt aufzugreifen, sondern nur noch als Hintergrund für Geschichten zu benutzen, so wie es im Italo-Western zu erleben ist oder im teils in Görlitz gedrehten "Inglourious Basterds" von Quentin Tarantino.

Auch vor diesem Hintergrund sollten sich die Görlitzer und Görlitzerinnen angesprochen fühlen, sich mit ihrer Erfahrung und Wahrheit an der "Erfahrung DDR" zu beteiligen.

"Erfahrung DDR" im Vortrag vorgestellt

Dr. von Richthofen stellt das Ausstellungskonzept, das als Mitmach-Projekt auch für sein Haus Neuland ist, gern im Vortrag oder Gespräch vor und wirbt dabei ums Mitmachen. So auch am vergangenen Donnerstag beim Lions-Club Görlitz-Zgorzelec, der auch den Lions Club Görlitz zur Veranstaltung eingeladen hatte.

Um Nostalgie gehe es bei "Erfahrung DDR" nicht, ebensowenig würden die von den Bürgerinnen und Bürgern für die Dauer der Ausstellung geliehenen Sachen und die damit verbundenen Erinnerungen in irgendeiner Form bewertet, machte der Museumsleiter deutlich: "Es ist ausdrücklich nicht so, dass wir den historischen Zeigefinger heben!" Wer sich aber an der Ausstellung beteiligt und einen erinnerungsverknüpften Gegenstand beisteuert, muss sich in diesem Zusammenhang mit seiner höchst persönlichen "DDR"-Geschichte auseinandersetzen und trägt sicherlich auch bei den Ausstellungsbesuchern zu dieser Auseinandersetzung, zum Abbau von Klischees, bei. "Wir sagen nicht, was die DDR war, sondern wir setzen diese Zeit aus kleinen Segmenten zusammen", so Dr. von Richthofen. Natürlich würden vor allem Ausstellungsstücke an das Museum verliehen, mit denen sich angenehme Erinnerungen verbinden, bis hin zu: "Sucht Euch aus, was Ihr brauchen könnt, den Rest könnt Ihr wegschmeißen!" Doch im Mittelpunkt sollen die Erinnerungen stehen, die guten und auch die schlechten.

Gespannt sein darf man auch auf die Begleitveranstaltungen zur Ausstellung, zu denen auch Podiumsgespräche und Diskussionsrunden gehören sollen, denn das Thema berührt. Auch der Vortrag bei den Lions wurde dank zahlreicher Wortmeldungen binnen weniger Minuten zur Gesprächsrunde, zum Austausch zwischen Jüngeren und Älteren und zwischen in Ost und West aufgewachsenen Leuten.

Mitmachen!

Wer sich mit einem Erinnerungsstück und der zugehörigen Geschichte beteiligen möchte, kann zum Infomobil, dem knallroten Feuerwehr-Barkas kommen,
  • am 2. Oktober 2016 zum verkaufsoffenen Sonntag
    auf dem Marienplatz von 13 bis 18 Uhr
  • am 8. Oktober 2016 zum Nachflohmarkt
    auf dem Brauereigelände von 14 bis 22 Uhr

oder den Kontakt mit den Ausstellungskoordinatoren direkt aufnehmen:
  • Agnieszka Lemmer,
    Tel. +49 (0)3581 - 7 67-8343, E-Mail a.lemmer@erfahrung-ddr.de
  • Robert Lorenz,
    Tel. +49 (0)3581 - 7 67-8344, E-Mail r.lorenz@erfahrung-ddr.de

Eine Hilfestellung für die Suche nach Erinnerungsstücken ist online verfügbar.

Die Mitmach-Ausstellung "Erfahrung DDR" wird gefördert aus dem Fonds Stadtgefährten der Kulturstiftung des Bundes, Projektpartner ist der Förderverein Kulturstadt Görlitz-Zgorzelec e.V.

Kommentar:

Vielleicht ist das Görlitzer Museumsprojekt eine der letzten großen öffentlichen Anlässe, sich mit seinen eigenen "DDR"-Erfahrungen auseinanderzusetzen; nicht allein, um sie an andere weiterzugeben: Es steht auch die Frage, was die in der "DDR" gemachte Lebenserfahrung heute noch an Wert hat.

Dass sie Wert hat, ist unbestreitbar, hängt aber davon ab, wie der Einzelne die "DDR" Zeit genutzt hat, beispielsweise durch Nutzung der damals äußerst günstigen Bildungs- und Weiterbildungsangebote. Allerdings gibt es auch Erfahrungslücken, so in der selbstbestimmten Eigenverantwortung für die persönliche Weiterentwicklung. Das hat es vielen ab 1990 schwer gemacht, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Abgefedert und vertröstet mit "Kurzarbeit Null", ABM, Bildungsträger-Odysseen und letztlich Hartz IV hat sich ein großer Teil der Bevölkerung in Richtung Beschäftigungsunfähigkeit entwickelt und reproduziert sich inzwischen selbst, wobei eine illusionär-verklärtes "DDR"-Bild weitergegeben wird.

Eine grundlegende Erfahrung ist sicherlich, unmittelbar - auch an sich selbst - erlebt zu haben, wie sich Menschen unter den Bedingungen der Diktatur verhalten haben: Die Skala reicht Begeisterung und Überzeugung bis zu mehr oder weniger starker Anpassung, auch Niedertracht, bis zur Suche nach Freiräumen, von Karriereverzicht aus moralischen Gründen, um dem Eintritt in die SED oder eine der Blockparteien zu entgehen, bis zum Widerstand, vom Austricksen der Staatsmacht bis zur Flucht. Wer das erlebt hat, kann den Vergleich ziehen, wie sich die(se) Menschen unter demokratischen Bedingungen verhalten - doch so weit geht die Görlitzer Ausstellung nicht.

Und das will sie auch nicht. In Görlitz wird die "Erfahrung DDR" wertfrei präsentiert, was Grundlage für eine breite Beteiligung am Mitmach-Projekt ist. Das so entstehende Puzzlebild der Erinnerung kann einen Beitrag zur Aufklärung leisten, warum der Osten noch immer anders tickt als der Westen (wie der Süden gegenüber dem Norden übrigens auch). Dem Aufruf, sein eigenes Puzzleteil als Erinnerungsstück samst zugehöriger Geschichte für die Zeit der Ausstellung beizusteuern, kann ich mich nur anschließen.

Ihr Thomas Beier


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  • Quelle: Thomas Beier | Foto Trabant mit DDR-Schild: geralt / Gerd Altmann, Foto Mauer: iamanilozturk / Anil Ozturk, beide pixabay und Lizenz CC0 Public Domain
  • Erstellt am 18.09.2016 - 22:21Uhr | Zuletzt geändert am 11.06.2017 - 07:50Uhr
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