„Sieht so Demokratie aus, Herr Landrat?“

Landkreis Görlitz. Diese Frage stellt Marian Melde, der sich im "Zittauer Arbeitskreis für soziale Gerechtigkeit " engagiert. Hintergrund ist die am 23. Juni 2010 vom Kreistag beschlossene Auflösung des Grundsicherungsausschusses, die aus seiner Sicht in der Änderung der Hauptsatzung des Landkreises Görlitz versteckt war. Dieser Ausschuss war erst unter Druck durch das Sozialbündniss des Landkreises Görlitz nach dem Vorbild des Altkreises Löbau-Zittau zur Interessenvertretung für ALG II-Betroffene gebildet worden. Er wird nun dem Sozialausschuss angegliedert, der dafür zum beschließenden Ausschusses wird.

Anzeige

Sozialbündnis protestiert

Das Sozialbündnis des Landkreises Görlitz, bestehend aus der "Görlitzer Montagsdemo - Die Originale“, dem "Zittauer Arbeitskreis für soziale Gerechtigkeit (ZAK)" und der Bürgerinitiative "Gegen Hartz IV und Sozialabbau Weißwasser/Niesky" protestiert gegen die aus seiner Sicht heimliche Abschaffung des Grundsicherungsausschusses und sieht den sozialen Frieden im Landkreis Görlitz "auf das erheblichste" gefährdet.

In einer gemeinsamen Presseerklärung, die bereits am 18. Juni 2010 veröffentlicht wurde, schreiben die Vertreter des Sozialbündnisses Oliver Otto, Marian Melde und Renate Radisch, zum Grundsicherungsausschuss wie folgt:

Eine Kontrolle, vor allem des Fachdienstes für Beschäftigung und Arbeit der ehemaligen Optionskommune Löbau-Zittau, war zumindest mit einem betroffenen Bürger gewährleistet. Denn im Grundsicherungsausschuss wirken neben KreisrätInnen auch berufene fachkundige BürgerInnen mit. Die ARGEN mit der Bundesagentur für Arbeit im Bereich der Stadt Görlitz und des ehemaligen NOL-Kreises entzogen sich weitestgehend einer Mitarbeit und Kontrolle in diesem Gremium. Dies alles wurde vom Landrat Bernd Lange und seiner Sozialbeigeordneten Martina Weber geduldet und keiner Änderung zugeführt.

Jetzt soll nach dem Willen des Landrates auch noch das letzte kleine verbliebene Mitbestimmungsrecht abgeschafft werden. Die Kreisräte sind am 23. Juni 2010 aufgefordert, darüber zu entscheiden.

Das Sozialbündnis mit seinen VertreterInnen aus Zittau, Görlitz, Niesky und Weißwasser verurteilt aufs schärfste diese Vorgehensweise: Man sieht in der geplanten Entscheidung einen Vorgriff auf das zukünftige zu installierende Modell der Betreuung ALG II-Betroffener im Landkreis Görlitz. Man will offensichtlich keine Kontrolle und Mitsprache der Schwächsten und Ärmsten in unserem Landkreis mehr haben.

„Es wird über die zunehmende Politikverdrossenheit in unserer Gesellschaft gejammert: Nun soll den Betroffenen auch noch die letzte Möglichkeit der direkten Bürgerbeteiligung genommen werden. Sieht so Demokratie aus, Herr Landrat?“ fragt Marian Melde, Mitstreiter im Sozialbündnis. Das Bündnis fordert daher den Landrat auf, die Beschlussvorlage zurückzuziehen, zumindest solange der Kreistag noch nicht über die Ausweitung der ARGEN oder der Optionskommune auf den gesamten Kreis entschieden hat. Sollte es am Mittwoch doch zur Abstimmung über die Änderung der Hauptsatzung kommen, appelliert Melde an die KreisrätInnen: „Wird der Beschluss unverändert umgesetzt, ist der soziale Frieden in unserem Landkreis auf das erheblichste gefährdet! Sie fordern damit die Wut und den Zorn von ca. 30.000 Hartz VI-Betroffenen heraus. Machen Sie den Grundsicherungsausschuss endlich im gesamten Landkreis zu dem Instrument, für das er gebildet wurde, anstatt ihn abzuschaffen. Unsere Vorschläge dazu liegen Ihnen bereits vor.“


Bereits am 14. Juni 2010 hatte sich das Sozialbündnis mit folgfendem Brief an die Kreisräte gewandt:

Sehr geehrte Damen und Herren Kreisräte,

in den kommenden Monaten werden Sie als gewählte Kreisräte über die künftige Struktur der Arbeitsverwaltung im Landkreis Görlitz entscheiden. Dies ist notwendig, weil sich einerseits im Landkreis z. Zt. die ARGEn NOL und Görlitz, andererseits der Fachdienst für Arbeit und Beschäftigung Löbau/Zittau um Betreuung und Vermittlung Landzeitarbeitsloser kümmern. Aber auch das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 20.12.2007 über die nicht verfassungskonforme Mischverwaltung der ARGEn zwingt zu einer Neuorganisation. Sie stehen also vor einer Richtungsentscheidung großer Tragweite, sowohl für die Betroffenen als auch für die Beschäftigten in den Behörden.

Es ist recht kompliziert, für die Bewertung der Modelle objektive Kriterien zu finden. In der Zwischenzeit liegt einiges an Zahlenmaterial vor, das einen Vergleich ermöglichen soll. Doch neben der Bewertung von Eingliederungsquote, Anzahl und Bearbeitung von Widersprüchen, Bearbeitungsdauer von Anträgen, Anzahl von Sanktionen gibt es eine Reihe von sogenannten „weichen“ Kriterien.

Wir als „Sozialbündnis des Landkreises Görlitz“ haben uns im Jahr 2008 im Zuge der Kreisreform aus der Görlitzer Montagsdemo „Die Originale“, dem „Zittauer Arbeitskreis für soziale Gerechtigkeit“ (ZAK) und der Bürgerinitiative (BI) „Gegen Hartz IV und Sozialabbau“ Niesky/Weißwasser gebildet, um den neuen Landkreis als Ganzes zu betrachten. Dabei begleiten wir seit Herbst 2004 Menschen, welche von den Auswirkungen der Hartz-Gesetze betroffen sind. Wir haben mit Hunderten ALG II-Empfängerinnen und -Empfängen gesprochen, ihre Probleme erfahren und ihnen z. T. geholfen, ihre Rechte gegenüber der Verwaltung durchzusetzen. Unsere Erfahrungen zeigen, dass sich unabhängig vom Modell der Verwaltung die Probleme bei der Anwendung der Arbeitsmarktgesetze sehr ähnlich sind. Sie liegen in erster Linie im Gesetz selbst.

Wir möchten Sie als Vertreter von Betroffenen dringend auffordern, die Entscheidung über das künftige Modell im Landkreis Görlitz an qualitativen Kriterien fest zu machen. Wir bitten Sie, dabei folgende Überlegungen in Ihre Entscheidung einfließen zu lassen:


1. Die hohe Anzahl Langzeitarbeitsloser (ALG II- u. Sozialgeld-Empfängerinnen und -Empfängern) in unserem Landkreis liegt nicht an der Arbeitsunwilligkeit der Betroffenen, sondern ist eine Folge der strukturellen und wirtschaftlichen Schwäche unserer Region. Dies kann nicht durch eine straffere Verwaltung oder Kürzung der Bezüge korrigiert werden, sondern nur durch eine Verbesserung der wirtschaftlichen Situation und die Schaffung existenzsichernder Arbeitsplätze.

2. Der hohe Anteil von Aufstockern bei ALG II-Empfängerinnen - und Empfängern ist Folge des sich ausweitenden Niedriglohnsektors und kann nur durch eine Anhebung der Löhne beseitigt werden.

3. Eine neue Arbeitsverwaltung im Landkreis Görlitz benötigt die Erfahrungen der Betroffenen! Egal bei welcher Struktur, es wäre wichtig, ein Beratungs- und Kontrollgremium zu schaffen (Beirat, Grundsicherungsausschuss) in dem ALG II-Empfängerinnen und -Empfänger als stimmberechtigte Mitglieder ausgewogen vertreten werden. Dabei ist territorialer Bezug zu wahren, d.h. pro Behördenstandort ein Gremium.

4. Verwaltungsvorschriften (z.B. Richtlinie für Kosten der Unterkunft und Heizung oder Sonderbedarfe) sind nicht hinter verschlossenen Türen zu erlassen, sondern transparent und nachvollziehbar demokratisch durch den Kreistag zu legitimieren.

5. Es ist ein Beschwerdemanagement aufzubauen, bei dem sich Betroffene über Missstände in der Bearbeitung ihres Anliegens beschweren können und unbürokratisch Abhilfe geschaffen wird.

6. Der teilweisen Willkür der Verwaltung (Sammelwut von Unterlagen) ist durch klare Regelungen Einhalt zu gebieten. Z. B. klare Festlegungen, welche Daten zu welchem Zweck erhoben werden dürfen.

7. Ermessensspielräume, z. B. bei Sonderbedarfen oder bei KdU, sind im Sinne der Betroffenen und nicht der Kostenminimierung zu treffen.

Wir möchten Sie bitten, uns Ihre Überlegungen hinsichtlich der Neustrukturierung der Arbeitsverwaltung mitzuteilen. Wir stehen Ihnen mit unseren Erfahrungen zu Gesprächen gern zur Verfügung.

Mit freundlichen Grüßen

Oliver Otto, Montagsdemo Görlitz „Die Originale“
Marian Melde, Zittauer Arbeitskreis für soziale Gerechtigkeit
Renate Radisch, Bürgerinitiative „Gegen Hartz IV und Sozialabbau“ Niesky/WSW


Kommentar

Nun hält sich, wie bekannt, meinerseits das Mitleid mit Hartz IV-Betroffenen in engen Grenzen, wenn über fehlenden materiellen Wohlstand in der sozialen Kuschelecke geklagt wird.

Das heißt aber nicht, die Zustände im Landkreis Görlitz kritiklos hinzunehmen und zuzusehen, wie ein erheblicher Anteil der Bevölkerung in soziale Schieflage gerät - eine Schieflage, die Nachteile in Bildung, Kultur, Sozialisierung und Lebenserfüllung mit sich bringt und insbesondere auch Auswirkungen auf Kinder hat.

Wenn diese unbequemen Probleme in einen Ausschuss verschoben und so aus dem Focus genommen werden, ist das ein Armutszeugnis ersten Ranges für eine an sich reiche Gesellschaft und Ausdruck der Unfähigkeit, Arbeitslosigkeit als soziales Problem auch nur ansatzweise zu lösen.

Schwierige Kiste und genau deshalb wichtig,

meint Ihr Fritz R. Stänker

Kommentare Lesermeinungen (0)
Lesermeinungen geben nicht unbedingt die Auffassung der Redaktion, sondern die persönliche Auffassung der Verfasser wieder. Die Redaktion behält sich das Recht zu sinnwahrender Kürzung vor.

Schreiben Sie Ihre Meinung!

Name:
Email:
Betreff:
Kommentar:
 
Informieren Sie mich über andere Lesermeinungen per E-Mail
 
 
 
Weitere Artikel aus dem Ressort Weitere Artikel
  • Quelle: red | Fritz Rudolph Stänker
  • Erstellt am 30.06.2010 - 02:42Uhr | Zuletzt geändert am 30.06.2010 - 03:26Uhr
  • drucken Seite drucken
Anzeige