Michael Kretschmer und der Krieg

Michael Kretschmer und der KriegGörlitz, 22. Juli 2022. Von Thomas Beier. In der Diskussion um die Sinnhaftigkeit des ukrainischen Verteidigungskrieges gegen Russland hat der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer für Furore gesorgt, indem er neben der Solidarität mit den Ukrainern einen sofortigen Waffenstillstand – "den Krieg einfrieren" – fordert und zum Dialog als Basis für Verhandlungen aufruft. Seitdem geifern Sofakrieger und -kriegerinnen gegen die Sächsische Union im Allgemeinen und Kretschmer im Besonderen.

Abb.: Noch einmal Schwaderbach. Heute würden nur die Mutlosen ihre Söhne für ein Gemetzel hergeben
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Die Alternative ist: mehr Krieg oder aufhören damit

Deutschland hat sich verändert: Eine links-grün-liberale – nein, Elite will ich nicht sagen, vielleicht passt urbane Twitter- und Facebook-Community besser – jedenfalls eine laute und in ihrer Reife begrenzte Kaste hat Deutungshoheiten an sich gerissen. Der deutsche Michel sieht staunend zu, wie durch rabiate Engriffe in die empfindlichen systemischen Zusammenhänge von Gesellschaft und Wirtschaft das Land an Identität und gesellschaftlichem Konsens verliert und Raum für Strömungen vor allem am rechtsnationalen Rand eröffnet wird. Merke: Sich etwas zuzutrauen bedeutet noch lange nicht, dass man's kann.

Nebenkriegsschauplatz Genderwesen

Selbst die Freiheit der Wissenschaft erscheint inzwischen gefährdet, etwa von Gender-Eiferern: Die Berliner Humboldt-Universität sagte einen Vortrag über Geschlecht und Gender ab, weil eine junge Wissenschaftlerin die biologische Zweigeschlechtlichkeit vertreten wollte. Später nachgeholt zeigte sich: Die Dame war offenbar wissenschaftlich nicht ganz up-to-date. Was ist nun wirksamer: Eine durchaus wissenschaftlich begründbare Meinung zu unterbinden oder die Meinung von der Wissenschaftscommunity einordnen zu lassen? Der Freiheit von Forschung und Lehre entspricht wohl letzteres und fuktioniert hat es letztendlich auch.

Das Gashahn-auf-Gashahn-zu-Spiel

Ein weiteres Beispiel für die verwirrte Gesellschaft und Regierungspolitik sind die tagelangen Diskussionen und Verlautbarungen, ob Russland nach der Wartung der North Stream Gasleitung den Gashahn wieder aufdrehen werde. Gab es je eine Meldung von Putin, wonach niemand die Absicht habe, den Gashahn zuzudrehen, geschweige denn, die Absicht bestehe? Erreicht wurde nur, dass die Bürger des Landes noch stärker verunsichert wurden und sich angesichts nur als peinlich zu bezeichnender Einsparvorschläge auf dem Niveau von "weniger CO2 verbrauchen" mehr denn je an den Kopf fassen, wie abgehoben vom Alltag die politische Kaste wohl sein muss: Offenbar leben die Herrschaften gewohnheitsmäßig in überheizten Wohnungen mit zu vielen Zimmern.

Von der Brückentechnologie zum Nichts

Überhaupt Gas: Bis neulich waren Gaskraftwerke eine von der Bundesregierung als wichtig definierte Brückentechnologie. Bis 2030 braucht Deutschland neue Gaskraftwerkskapazitäten mit einer Gesamtleistung von bis zu bis zu 30 Gigawatt, doch was soll's, wenn das Gas fehlt? Wirtschaftliche Entwicklung heißt immer, möglichst risikoarme Schritte in Richtung auf ein Ziel zu gehen. Bei der "Energiewende" jedoch wurden Ziele festgezurrt, während die Wege dorthin von Anfang an unsicher waren und mittlerweile verstellt sind. Der so heftig kritisierte Kretschmer hat im Chemnitzer Salon vom 6. Juli 2022 ganz realistisch für den Bau der vorgesehenen 50 neuen Gaskraftwerke keine Basis mehr gesehen.

Vielleicht weckt Kretschmer den Argwohn auf Bundesebene, weil er in Sachsen mit aller Kraft daran arbeitet, was in Berlin nicht gelingt: das Land zu führen.

Gasmangel heißt Ausfall

Ein einschneidender Gasmangel wäre nicht beherrschbar: Erdgas ist Rohstoff und selbst da, wo es verheizt wird, oftmals kurz- und mittelfristig auch durch Wasserstoff nicht ersetzbar. Sind bestimmte Branchen, die auf kontinuierliche Prozesse angewiesen sind, erst einmal heruntergefahren, können sie schon rein technologisch nicht wieder per Knopfdruck gestartet werden, von zerstörten Lieferketten ganz abgesehen. Die Folgen für die Lebensverhältnisse in Deutschland wären verheerend und selbst mit der Unterstützung für die Ukraine würde es dann schwierig werden. Insofern hat Kretschmer recht, wenn der den durch die auf Sicht übrigens weitgehend wirkungslosen Russlandssanktionen bewirkten Schnitt ins eigene Fleisch hervorhebt; siehe die Embargopolitik gegenüber der Sowjetunion, die sich vor allem auf den Lebensstandard der Bevölkerung auswirkte, aber weder auf den Staat oder die Rüstung sonderlich beeindruckte.

Die deutsche Gesellschaft muss realisieren: Auf ein Überleben im wirklichen Notbetrieb ist kaum jemand vorbereitet. Nötig wären dazu Ofenheizung, Kohle und der eigene Anbau von Lebensmitteln insbesondere im ländlichen Raum. Selbst wer im Notfall einen alten Ofen provisorisch in Betrieb nehmen möchte, dürfte erst einmal Ärger mit seinem Schornsteingefermeister bekommen. Mehr dazu kann man in einem Beitrag über Wutbürger, genauer gesagt die "Quellen der Wut", nachlesen.

"Putinversteher", ein garstig Wort

Zurück zum Krieg in der Ukraine, der durch den russischen Angriff vom Bürgerkrieg in der Ostukraine zum internationalen Krieg mit weltweiten Auswirkungen wurde. Täglich verwenden die großen Medien die Floskel vom "russischen Angriffskrieg – ja, die Russen haben angegriffen, ist der Krieg in der Ukraine aber nicht besser als Verteidigungskrieg der Ukrainer zu charakterisieren?

Wie dem auch sei: Wenn man versucht zu verstehen, wie es zu diesem Krieg kommen konnte, wird man schnell als "Putinversteher" bezeichnet; beunrugigenderweise auch von Leuten, zu deren intellektuellem Niveau man bisher aufzusehen glaubte. Der Versuch, Putin zu verstehen, ist Teil der Lösung, bedeutet jedoch keineswegs, Verständnis für Putins Politik aufzubringen. Es ist wie in jeder Auseinandersetzung: Nur auf das Verhalten des Gegners zu reagieren führt zu langanhaltenden Konflikten oder zur Niederlage einer der Konfliktparteien. Viel wichtiger ist, die Handlungsmotive zu erkennen und zu verstehen, weil erst sie den Ansatzpunkt zur Konfliktbeilegung bieten. Dabei ist es völlig egal, wie man diese Motive selbst bewertet: Wenn sie das Vorgehen des Gegenüber bestimmen, dann wirken sie ganz real.

Nie wieder Krieg! Schon vergessen?

Doch die gesellschaftlichen und die wirtschaftlichen Folgen von Krieg und Embargo sind nur die eine Seite der Medaille: Wenn sich wie Michael Kretschmer auch Leute, die man gemeinhin als Intellektuelle bezeichnet, gegen die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine ausgesprochen haben, dann vor dem Hintergrund einer humanistischen Abwägung, die berechtigten Widerstand zu Leid und Zerstörung ins Verhältnis setzt. Das deutsche Bekenntnis "Nie wieder Krieg!" bietet ein glasklare Orientierung. Der Philosoph Jürgen Habermas bringt das Dilemma auf den Punkt und zieht am Ende eines Essays die Konsequenz.

Wer sich hingegen – auch solche finden sich unter Intellektuellen – für die Lieferung schwerer Waffen in die Ukraine ausspricht, nimmt wohlweislich das Risiko eines Kriegs, der nach den beiden im vorigen Jahrhundert erneut große Teile Europas und vielleicht der Welt erfasst, in Kauf. Ist das Politik zum Wohle des deutschen Volkes und der Minderheiten in Deutschland? Ein Krieg mit Russland ist kein Ballerspiel und keine Panzerschlacht am PC, sondern das heutige Russland greift in der Tradition der Roten Armee an und setzt neben Terror und Grausamkeit vor allem auf ein riesiges Reservoir an Menschen. Hier zählt das Leben des Einzelnen kaum etwas: In Stalingrad erfolgten Angriffe der Roten Armee auch ohne Waffen, die sollten sich die Soldaten auf dem Schlachtfeld selbst suchen. Im Schnitt überlebten die Sowjetsoldaten dort keine drei Tage.

Pazifismus

Mehr denn je gefragt ist ein Pazifismus, der Gewalt in Auseinandersetzungen beendet und auf Gewaltverzicht hinwirkt. Das ist keineswegs naiv, nur bei jenen nicht beliebt, die an den Rüstungsausgaben wieder einmal kräftig verdienen.


Günter Kunert
Über einige Davongekommene


Als der Mensch unter den Trümmern seines bombardierten Hauses hervorgezogen wurde, schüttelte er sich und sagte: Nie wieder. Jedenfalls nicht gleich.



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Kommentare Lesermeinungen (1)
Lesermeinungen geben nicht unbedingt die Auffassung der Redaktion, sondern die persönliche Auffassung der Verfasser wieder. Die Redaktion behält sich das Recht zu sinnwahrender Kürzung vor.

Populismus für Fortgeschrittene

Von Nicole Quint am 23.07.2022 - 08:59Uhr
Und jetzt freue ich mich auf einen Artikel, der die vermeintlich moralischen Ansprüche des „Friedensstifters“ und „Konfliktmanagers“ Michael Kretschmer mit seiner Haltung zu den anderen Kriegen in der Welt vergleicht. Hat man je ein Wort von ihm gegen die Rüstungsexporte der deutschen Bundesregierung an Parteien im Jemen-Krieg gehört?

Die Menschen, die dort oder in Syrien sterben, gefährden schließlich auch nicht die Energiesicherheit in Sachsen. Die ist übrigens auch deshalb so gefährdet, weil Kretschmer beim Aufbau regenerativer Energien völlig versagt hat. Sachsen zählt in dieser Hinsicht zu den am schlechtesten aufgestellten Bundesländern.

Kretschmer schielt inzwischen dauerhaft nach rechts, um der AfD Stimmen abzujagen. Dieses Ziel im Blick widerspricht er dem eigenen Parteivorsitzenden, reist zum lächerlichen Telefondate mit Putin nach Moskau und lässt sich dort 30 Millionen Dosen des russischen Impfstoffs Sputnik aufschwatzen. Ein brillanter Führer, den Sachsen da hat.

Auch Günter Kühnert:
„Auf einem Vulkan lässt sich leben,
besagt eine Inschrift im zerstörten Pompeji.“

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  • Quelle: red | Foto: © BeierMedia.de
  • Erstellt am 22.07.2022 - 09:55Uhr | Zuletzt geändert am 22.07.2022 - 14:02Uhr
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