Den Wandel gestalten oder verwalten?
Landkreis Görlitz, 23. November 2017. Von Thomas Beier. Unter dem Motto "Energiekreis Nr. 1" will sich der Landkreis Görlitz zu einer "innovativen Energieregion" entwickeln und setzt dabei auf die Schwerpunkte Energiestrategie, Energieproduktion, Energieforschung, Energiemaschinenbau und Energieeinsparung. Mit dem Stopp der Kohleverstromung, der wohl schon binnen weniger Jahre Realität wird, setzt bereits jetzt ein grundlegender Wandel in den Bereichen Energieproduktion (Kraftwerk Boxberg/O.L., Tagebaue und Serviceunternehmen) und Energiemaschinenbau (Siemens Turbinenbau Görlitz) ein.
Vermeidung von Treibhausgasen ist große Herausforderung für Landkreis Görlitz
Wobei Wandel eine verharmlosende Bezeichnung ist für die Tatsache, dass gut bezahlte, sicher geglaubte Industriearbeitsplätze entfallen. Wohin das führt, kann man in Weißwasser/O.L. / Běła Woda im Norden des Landkreises Görlitz nachvollziehen: Mit dem Stellenabbau in Kraftwerk und Tagebauen und vor allem dem Niedergang der Glasindustrie ist hier die Einwohnerzahl von mehr als 38.000 im Jahr 1990 auf aktuell rund 16.000 gesunken. Obgleich sich die Stadt redlich um Aufschwung bemüht: Ein Spaziergang reicht, um sich die manifestierten Probleme unmittelbar vor Augen zu führen.
Für die Stadt und vor allem den nördlichen Teil des Landkreises Görlitz würde sich vor allem mit dem Stopp der Kohleverstromung die Todesspirale aus Arbeitslosigkeit und Wegzug wieder zu drehen beginnen. Die andere Seite: Trotz aller technologischen Fortschritte sind Braunkohlekraftwerke wie das in Boxberg/O.L. / Hamor riesige Umweltsünder, die den Klimawandel vorantreiben und das Lebensmittel Nummer Eins, die Atemluft, beeinträchtigen. Die Braunkohleverstromung ist zugleich Ursache für die Vernichtung von Landschafts- und Siedlungsräumen in riesigem Ausmaß. Vor diesem Hintergrund hatten sich bereits vor einigen Jahren Sorben an die Regierung in Schweden (Sitz des damaligen Kraftwerks- und Tagebaubetreibers Vattenfall) gewendet, nachdem sich der sorbische Dachverband DOMOWINA "für einen geregelten und geplanten mittelfristigen Ausstieg aus der Braunkohle" ausgesprochen hatte.
Wirtschaft nimmt Bundesregierung in die Pflicht
Nun könnte es schneller gehen als je gedacht: Am 7. November 2017 wurde eine Erklärung "Für Innovationen und Investitionssicherheit: Nächste Bundesregierung muss Klimaschutz zur zentralen Aufgabe machen", unterzeichnet von 51 Unternehmen, veröffentlicht (siehe unten). Die begreifen den Ausstieg aus fossilien Energieträgern aus Chance und fordern von der Bundesregierung, klare Rahmenbedingungen in diese Richtung zu setzen. Alarm im strukturschwachen Landkreis Görlitz wurde ausgelöst durch den Passus "Unverzichtbar ist ein verlässlicher und sozialverträglicher Ausstiegspfad bei der Kohleverstromung. Dazu gehört eine schrittweise Verringerung der treibhausgasintensiven Kraftwerkskapazitäten unter Berücksichtigung der Versorgungssicherheit und der Klimaziele. Hierbei sollte ein wirksamer CO2-Preis eine möglichst zentrale Rolle spielen."So reagiert der Landkreis Görlitz
Hierauf das das Landratsamt Görlitz reagiert mit einem Brief, veröffentlicht als Faksimile auf der facebook-Seite des Landkreises, neben einem rot durchgekreuzten Artikel, in dem sachlich über die Forderung nach dem Kohleausstieg berichtet wird. Im Schreiben will der Landkreis, der neben einem Amt für Kreisentwicklung auch die privatwirtschaftlich auftretende Entwicklungsgesellschaft Niederschlesische Oberlausitz mbH unterhält, die Unterzeichner der Kohleausstiegserklärung ins Boot holen: "Lassen Sie Ihrem Aufruf nun tatsächlich Taten folgen und treten Sie mit uns in den Dialog."Wie peinlich: Die 51 Unternehmen hatten an die künftige Bundesregierung appelliert und dringenden Handlungsbedarf definiert, um die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft bei der Transformation in eine treibhausgasneutrale Wirtschaft zu sichern und ihre Bereitschaft zur Mitarbeit zugesichert. Und genau diese Unternehmen, die die Zeichen der Zeit erkannt haben und den Energiewandel vorantreiben wollen, werden aufgerufen, ihrem Aufruf "nun tatsächlich Taten" folgen zu lassen? Zu den Unterzeichnern gehören Händler, Baukonzerne, Nahrungsmittelhersteller, Stadtwerke, Energie- und Immobilienunternehmen und andere. Sie alle wollen den Umbau zur treibhausgasneutralen Wirtschaft mitgestalten, sollen aber zum Dank dafür in die Pflicht genommen werden für die Herausforderungen im Landkreis Görlitz? Was erwartet der Landkreis, ein paar neue Aldi-Filialen (Aldi Süd ist Unterzeichner), mehr Hermes-Paketautos (Unterzeichner), mehr Bankfilialen (Sparda ist Unterzeichner)? Oder dass adidas (Unterzeichner) nun im Landkreis Görlitz produziert?
Gestaltungskraft gefragt
Anstatt sich der Initiative anzuschließen, würde wohl der Status quo der Braunkohleverstromung am liebsten zementiert und die Ausstiegsprobleme immer weiter in die Zukunft delegiert. Seit Jahren beschäftigt sich der Landkreis Görlitz als "innovative Energieregion" mit dem Thema, betreibt eine Servicestelle Energie, lässt den Sachstand Energie im Landkreis Görlitz dokumentieren und will Wirtschaft fördern, indem viele Dienstleistungen angeboten werden.Für Gestaltungskraft spricht das nicht. Die könnte man tatsächlich gewinnen, wenn man sich als erster Landkreis zur Wirtschaftsinitiative für die Kohlendioxidvermeidung bekennt. Punkt Vier als Beispiel passt doch wie die Faust aufs Auge: "...deutliche Stärkung des Schienenverkehrs und des kommunalen Nahverkehrs – u.a. durch eine Beschleunigung von Infrastrukturausbau und -modernisierung – als auch zusätzliche Maßnahmen für eine verstärkte Nutzung emissionsarmer Antriebe und Treibstoffe, z. B. beim Ausbau der Elektromobilität." Gelingt es nicht, am Wandel proaktiv teilzuhaben, entwickelt sich die Lausitz zu einer Region mit dem Charakter auf der Zeit vor dem Beginn des industriellen Kohleabbaus.
Der Wortlaut der Erklärung von 51 Unternehmen und Verbänden:
Für Innovationen und Investitionssicherheit: Nächste Bundesregierung muss Klimaschutz zur zentralen Aufgabe machen
Die notwendige Transformation hin zu einer treibhausgasneutralen Wirtschaft gewinnt durch das völkerrechtlich verbindliche Pariser Klimaabkommen global an Fahrt. Weltweit erhöht der neue Klimavertrag unternehmerische Planungssicherheit und ermöglicht dadurch zusätzliche Investitionen.Nach dem historischen Erfolg von Paris und seiner Bestätigung auf dem Hamburger G20-Gipfel kommt es jetzt auf die Umsetzung der Klimaziele auch in Deutschland und der EU an. Wir begrüßen, dass Deutschland mit dem Klimaschutzplan 2050 und seinen Sektorzielen für 2030 einen wichtigen ersten Schritt hin zu besseren Bedingungen für zukunftssichere Investitionen gemacht hat. Unternehmen können bei entsprechender Rahmensetzung einen zentralen Beitrag leisten, um die aus dem Pariser Abkommen abgeleiteten Klimaziele in Deutschland und der EU durch Innovationen und Investitionen zu erreichen. Wir sind bereit, unseren Anteil am Klimaschutz zu leisten.
Um bei der Transformation hin zur treibhausgasneutralen Wirtschaft international den Anschluss zu behalten, braucht Deutschland jedoch eine überzeugende Umsetzungsstrategie für seine vergleichsweise ehrgeizigen Emissionsziele. Eine ambitionierte Klimapolitik ist heutzutage wichtiger Baustein einer verlässlichen und zukunftsorientierten Wirtschaftspolitik, die notwendige Investitionen vorantreibt sowie Arbeitsplätze schafft und sichert. Eine Vorreiterrolle beim Klimaschutz ist eine große Chance für die Innovationskraft und Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft. Die kommende Regierungskoalition sollte darum die Geschwindigkeit der Transformation hin zur treibhausgasneutralen Wirtschaft erhöhen und hierzu die enge Zusammenarbeit mit europäischen und internationalen Partnern suchen.
Wir, Unternehmen aus einem breiten Spektrum von Branchen der deutschen Wirtschaft, sehen für die Politik in der neuen Legislatur bei folgenden Punkten dringenden Handlungsbedarf:
- Die Umsetzung des Klimaschutzplans 2050 muss zum Modernisierungsprogramm für Deutschland werden. Eine der zentralen Aufgaben der nächsten Monate ist es, Planungssicherheit zu schaffen und den Klimaschutzplan im Koalitionsvertrag möglichst verbindlich zu bestätigen. Die Implementierung der jeweiligen 2030-Sektorziele sollte sehr bald mit Umsetzungsplänen und konkreten Maßnahmenpaketen unterlegt werden.
- Als wesentliche Innovationstreiber brauchen Energiewende und Wärmewende durch den neuen Koalitionsvertrag zusätzlichen Schub. Dazu gehören ein Anheben der Ausschreibungsmengen bei den erneuerbaren Energien und zusätzliche Anstrengungen beim Stromsparen, um die weitgehende Elektrifizierung von Wärmesektor, Verkehr und Teilen der Industrie zu ermöglichen. Für die Energiewende als auch zur Effizienzsteigerung müssen Stromnetze und Speicher beschleunigt ausgebaut, die europäische Zusammenarbeit intensiviert und die Digitalisierung vorangetrieben werden. Zur Steigerung der Energieeffizienz bedarf es einer entschiedenen Beschleunigung bei der Gebäudesanierung mit zusätzlichen Anreizen, wie z.B. einer steuerlichen Förderung. Unverzichtbar ist ein verlässlicher und sozialverträglicher Ausstiegspfad bei der Kohleverstromung. Dazu gehört eine schrittweise Verringerung der treibhausgasintensiven Kraftwerkskapazitäten unter Berücksichtigung der Versorgungssicherheit und der Klimaziele. Hierbei sollte ein wirksamer CO2-Preis eine möglichst zentrale Rolle spielen.
- Für mehr Investitionssicherheit brauchen Deutschland und EU umgehend eine Weiterentwicklung des Emissionshandels mit flankierenden Maßnahmen für ein investitionsrelevantes CO2-Preissignal. Um ausreichende Anreize für ein CO2-armes Wirtschaften und Handeln zu schaffen, sollte die Modernisierung von Steuern und Abgaben sowie die Beendigung fossiler Subventionen bis 2025 geprüft werden. Ein solches Vorgehen würde eine starke Rolle Deutschlands und der EU erlauben, um auch auf G20-Ebene entsprechende Konzepte voranzubringen. Die im internationalen Wettbewerb stehende energieintensive Industrie benötigt dabei kluge staatliche Rahmensetzungen, um die Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten und ihre Transformation zu ermöglichen.
- Deutschland und EU brauchen jetzt den konsequenten Einstieg in die Verkehrswende. Grundlage dafür ist eine verkehrsmittelübergreifende und klimafreundliche Mobilitätsstrategie für Deutschland. Dazu gehören sowohl eine deutliche Stärkung des Schienenverkehrs und des kommunalen Nahverkehrs – u.a. durch eine Beschleunigung von Infrastrukturausbau und -modernisierung – als auch zusätzliche Maßnahmen für eine verstärkte Nutzung emissionsarmer Antriebe und Treibstoffe, z. B. beim Ausbau der Elektromobilität.
- Von der neuen Regierung erwarten wir entschiedene und effiziente Maßnahmen zur Erreichung des nationalen 2020-Emissionsziels. Die langfristigen Klimaziele Deutschlands und der EU sollten vor dem UN-Klimagipfel 2020 in Einklang mit den Pariser Klimazielen gebracht werden und dementsprechend mit bis zu 95 Prozent Emissionssenkung für 2050 am oberen Rand des derzeitigen Zielkorridors ausgerichtet werden.
Koordiniert durch: Stiftung 2° | Germanwatch | B.A.U.M. e.V.
51 Unterzeichner: adidas | AIDA Cruises | ALBA | ALDI SÜD | Alfred Ritter GmbH & Co.KG | Alnatura | Baufritz | Bausparkasse Schwäbisch Hall | BUDNIKOWSKY | CEWE | DAIKIN Airconditioning Germany | Deutsche Börse | Deutsche ROCKWOOL | Deutsche Telekom | Deutsche Wohnen | elobau | EnBW | ENTEGA | E.ON | EPSON DEUTSCHLAND | EWE | Firmengruppe Max Bögl | Gegenbauer Holding | GLS | Hermes Germany | HOCHTIEF | Interseroh | ista International | Lebensbaum | LR Facility Services | METRO | Naturstrom | Nestlé Deutschland | Otto Group | Papier- und Kartonfabrik Varel | PUMA | SAP | Schneider Schreibgeräte | Schüco International | Siemens | Sparda-Bank München | Stadtwerke München | Stadtwerke Tübingen | Tchibo | Trianel | Triodos Bank | Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) | Viebrockhaus | WALA | Wilkhahn | Zentralverband Elektrotechnik- und Elektronikindustrie (ZVEI)
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- Erstellt am 23.11.2017 - 12:03Uhr | Zuletzt geändert am 21.09.2020 - 18:58Uhr
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