Aus dem fernen Sibirien

Görlitz | Tomsk (Томск). Geschichte lässt nicht los und ist der Boden, der die Zukunft nährt. Ganz konkret erlebt hat das wieder einmal die Leiterin des Städtischen Friedhofs Görlitz, Evelin Mühle. Sie half beim Besuch des Grabes eines kurz nach dem Krieg verstorbenen Sowjetsoldaten.

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Evelin Mühle berichtet

Bereits seit Juli 2012 hatte ich per E-Mail Kontakt zu Vladimir Melnikov, der zusammen mit seinem Bruder das Grab seines Großvaters in Görlitz besuchen wollte. Der Großvater ruht seit 1945 in einem Kriegsgrab auf dem Sowjetischen Ehrenfriedhof in Görlitz-Rauschwalde. Viele E-Mails gingen hin und her… und dann wurde es plötzlich konkret: am 15. Dezember 2012 stand Vladimir Melnikov auf dem Bahnhof, ohne seinen Bruder, der leider nicht mitkommen konnte.

Zusammen mit Ingo Ulrich vom Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes (DRK Suchdienst) und Pfarrer Erdmann Wittig von der Christuskirchengemeinde, zu der der Friedhof gehört, besuchten wir das Grab von Gavril Michailowitsch Melnikov, geboren 1906, gestorben am 27. Mai 1945. Melnikov hinterließ drei Söhne, die damals im Alter von 16, 15 und 9 Jahren waren; der Mittlere lebt heute noch in Kherson (Херсо́н) in der südlichen Ukraine.

Das Wetter an diesem 15. Dezember war scheußlich, es regnete und es war eisigkalt - aber Herr Melnikov lebt in Tomsk in Sibirien und erzählte von minus 35°C und da war es uns in Görlitz schon nicht mehr ganz so kalt.

Als Pfarrer Wittig das Totengedenken las und ein Gebet sprach, war es geradezu feierlich um uns herum. Nein, es ist keine Selbstverständlichkeit, dass Fremde sich nah sein können. Im Text des Totengedenkens, das alljährlich zum Volkstrauertag an vielen Orten verlesen wird, heißt es zum Schluss: „… unser Leben steht im Zeichen der Hoffnung auf Versöhnung unter den Menschen und Völkern, und unsere Verantwortung gilt dem Frieden unter den Menschen zu Hause und in der Welt.“ Das genau ist es. Das ist es, was wir heute tun müssen!

Wir zeigten Herrn Melnikov die umfangreichen Arbeiten, die in den Jahren 2006 bis 2009 in den drei Kriegsgräberanlagen in Görlitz-Rauschwalde durchgeführt werden konnten, wir zeigten ihm ein Stückchen Weihnachtsmarkt und waren zusammen in der Peterskirche - und wir hatten uns viel zu erzählen. Alte Geschichten: dass sein Großvater Buchhalter war und in der Nähe von Tomsk lebte, dass er als Gefangener nach Deutschland kam und dann zwar das Kriegsende erlebte aber eben doch im St. Carolus Krankenhaus, das damals Lazarett war, starb.

Und neue Geschichten: dass Herr Melnikov an der Pädagogischen Universität in Tomsk als Leiter des Akademischen Auslandsdienstes arbeitet und deshalb auch ein bisschen in der Welt herumkommt und eben gerade an der Humboldt-Universität in Berlin zu tun hat. Auch über Weihnachtstraditionen und Bunzlauer Geschirr haben wir geredet und alles ging ganz einfach, weil Herr Melnikov richtig gut deutsch spricht.

Vielleicht kommt er einmal wieder, vielleicht dann doch mit seinem Bruder, jedenfalls haben wir ihm ein hübsches Görlitz-Heft mitgegeben, mit bunten Bildern von schönen Sonnentagen in einer schönen Stadt.

von Evelin Mühle,
Städtischer Friedhof Görlitz


Mehr:
http://www.goerlitz.de
http://www.tomsk.ru

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  • Quelle: red | Evelin Mühle | Foto: Erdmann Wittig
  • Erstellt am 04.01.2013 - 11:31Uhr | Zuletzt geändert am 02.09.2015 - 10:14Uhr
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