Wer wollte die Wiedervereinigung?
Bonn, 19. August 2006. Was war das Ziel des Wendeherbstes ´89 – eine reformierte "DDR" oder die Wiedervereinigung? Ein neuer Sammelband schildert ein differenziertes Bild.
Sächsische Bürgerrechtler ziehen Bilanz zur "Wende"
"Wir wollten keine andere DDR", erinnert sich Matthias Rößler, einer jener unzufriedenen DDR-Bürger, die 1989 die SED-Macht wanken sahen und ihr noch einen energischen Tritt auf dem Weg in den Orkus gaben. Rößler, später lange Jahre Wissenschafts- und Kultusminister in Sachsen, wünschte 1989 eine rasche Vereinigung der Nation. Andere DDR-Oppositionelle waren sich dieses Ziels nicht so sicher: Sie hofften auf einen "Dritten Weg", eine "andere DDR" ohne SED-Staatspartei und MfS-Unterdrückungsapparat.
Im 16. Jahr der deutschen Einheit ist es noch immer eine ungeklärte Frage, ob die Mehrzahl der Dissidenten 1989 wirklich die Wiedervereinigung anstrebte. In Sachsen scheint dies eher der Fall gewesen zu sein als in Berlin, wie der neue Sammelband des Chemnitzer Politikwissenschaftler Eckhard Jesse nahelegt. Sechzehn sächsische Bürgerrechtler haben darin von ihren Erlebnissen in der DDR und zur Wendezeit berichtet und Bilanz gezogen.
Es sind teils sehr bewegende und spannende Erinnerungen, teils zeitgeschichtliche Analysen, teils auch politisch-weltanschauliche Bekenntnisse, die Jesse nun in einem Buch beim Christoph-Links-Verlag herausgegeben und kommentiert hat. Was waren die Beweggründe und konkreten Ziele der DDR-Opposition, wie stark war ihr Rückhalt im Volk? Gab es regionale Unterschiede? Welche Haltung nahmen die einzelnen Gruppen zur deutschen Einheit ein? Und nicht zuletzt bestehen sehr unterschiedliche Meinungen zu den Erfolgen und Misserfolgen im Prozess der Vereinigung.
Das politische Spektrum der Referenten reicht von links bis rechts: Vertreten sind Bürgerrechtler, die später in der sächsischen CDU Karriere machten wie Heinz Eggert, Wolf-Dieter Beyer, Arnold Vaatz und Matthias Rößler, eher alternative Aktivisten wie Werner Schulz und Gunda Röstel, die zum Bündnis 90/Die Grünen stießen, bis hin zu solchen Oppositionellen, die nie in die Parteipolitik gingen oder sich rasch wieder zurückzogen, etwa Martin Böttger, Uwe Schabe, Annemarie Müller oder Cornelia Matzke.
Schnell wird klar, dass eine geschlossene Oppositionsfront gegen den SED-Staat nie bestand. Höchst unterschiedlich war die konkrete Motivation der einzelnen Personen und Gruppen, mehr oder weniger offen dem System zu widersprechen, sich ihm zu entziehen und zu widersetzen. Auffällig ist der hohe Anteil von kirchlich Engagierten unter den Oppositionellen. Wer aus religiöser Überzeugung den DDR-Wehrdienst verweigerte, verbaute sich die berufliche Laufbahn. Er gewann aber früher einen realistischen Blick für das wahre Gesicht des DDR-Systems. Christlich inspirierte Friedens-, Menschenrechts- und Umweltgruppen protestierten in den achtziger Jahren gegen Aufrüstung und Militarisierung, gegen alltägliche Repressalien und gegen die Zerstörung der Natur, welche im Sozialismus besonders rücksichtslos betrieben wurde.
Sachsen war 1989 ein Zentrum der oppositionellen Bewegung. Begonnen hatte es schon früh mit den Friedensgebeten in der Leipziger Nikolaikirche, von denen Pfarrer Christian Führer berichtet. Ab dem Spätsommer wuchs die Menge bei den Montagsdemonstrationen mit bald mehreren Zehntausenden Teilnehmern, es folgte der Aufruhr vor dem Dresdner Bahnhof, als dort Anfang Dezember 1989 die Züge mit Flüchtlingen aus der Prager Botschaft durchfuhren. Stets saß den Bürgern die Angst im Nacken, dass das Militär oder die Betriebskampfgruppen zuschlagen könnten.
Dann kam das folgenschwere Treffen von Hans Modrow mit Helmut Kohl in Dresden am 19. Dezember 1989, als der westdeutsche Kanzler die Menschenmenge mit „liebe Landsleute“ ansprach und seine Worte zu einer Wiedervereinigung der Nation gewaltigen Jubel auslösten. Dieses Schlüsselerlebnis vor der Ruine der Frauenkirche, glaubt Herbert Wagner, der nach der Wende zehn Jahre Bürgermeister Dresdens war, habe die Einheit Deutschlands entscheidend beschleunigt. Wie viel die friedliche Revolution auch der Haltung der Sowjets zu verdanken hat, insbesondere Gorbatschows Weigerung, den bedrängten SED-Genossen beizuspringen, betont Arnold Vaatz in seinem Beitrag.
Ökonomisch standen die DDR wie auch die Sowjetunion Ende der achtziger Jahre vor dem Kollaps. Im Westen hatten sich viele über die katastrophal niedrige Produktivität bereitwillig täuschen lassen, tatsächlich hatten die sozialistischen Staaten jahrzehntelang von der Substanz gezehrt. Der Bürgerrechtler Uwe Schabe berichtet von seinen Erfahrungen in der Planwirtschaft: „Es gab praktisch nichts. Wenn keine Ersatzteile vorhanden waren, saßen wir tagelang beim Skatspielen oder Kaffeetrinken in der Werkhalle, oder aus drei Baumaschinen wurden die Teile ausgebaut, um eine wieder einsatzfähig zu machen. Diese wurde dann dafür benutzt, dass der Werksleiter am Sonnabend sein privates Grundstück planieren konnte.“
Obwohl in offiziellen Statistiken die Arbeitslosigkeit bei Null lag, waren tatsächlich Millionen von Beschäftigten ohne Arbeit. Die dem System inhärente Misswirtschaft führte zu ständigen Versorgungsengpässen, was die Unzufriedenheit im Volke steigen ließen. Bemerkenswert ist der Umstand, wie vage die Vorstellungen vieler Bürgerrechtler zum notwendigen Umbau des ökonomischen Systems der DDR blieben. In vielen Gesprächskreisen spielte das Thema offenbar nur eine ganz nachrangige Rolle.
Nicht wenige der linken Intellektuellen träumten von einem „Dritten Weg“, einem halbsozialistischen, verbesserten Mischsystem. Dabei verkannten sie die enge Beziehung zwischen politischer und wirtschaftlicher Freiheit, die „Interdependenz der Ordnungen“, wie es Walter Eucken, einer der Väter des westdeutschen Modells der sozialen Marktwirtschaft, genannt hat, den Wolf-Dieter Beyer in seinem Beitrag „Sozialismus mit Westgeld geht nicht“ erwähnt. Ohne Privateigentum kann es keine bürgerliche Selbständigkeit und Unabhängigkeit vom Staat geben. Wenn es, wie im „idealen“ Sozialismus, nur noch Kollektiveigentum und einen einzigen Arbeitgeber gibt, so folgt daraus die totale Erpressbarkeit und Unfreiheit der Individuen.
Auf die in den letzten Jahren zu beobachtende Welle der „Ostalgie“ reagieren viele ehemalige Bürgerrechtler allergisch. Tobias Hollitzer, Mitarbeiter der Birthler-Behörde, beklagt ein „trotziges Ost-Gefühl, das absurde Blüten treibt: Jugendliche tragen die Symbole der Unterdrückung inzwischen tausendfach auf T-Shirts und Jacken. Im Versandhandel, in Souvenirläden und selbst im Shop des Deutschen Historischen Museums sind sie erhältlich: das Signet des MfS auf Zollstöcken, als Schlüsselanhänger oder Wandschmuck; das Emblem der SED auf Feuerzeugen; die Lieder von FDJ und Staatssicherheit auf CD gepresst“.
Jene DDR-Bürger, denen aufgrund ihrer Weigerung, in FDJ oder SED einzutreten, die berufliche Laufbahn zerstört wurde, die jahrelang von der Stasi bespitzelt und „zersetzt“ wurden oder gar im Gefängnis landeten, müssen diese Verharmlosung der Diktatur als Hohn empfinden. Ebenso die Tatsache, dass die Opfer um minimale Entschädigungen kämpfen, während die Täter heute recht hohe Renten und Pensionen beziehen.
In mehreren Beiträgen klingen Ärger und Verbitterung darüber an, dass es nicht gelungen ist, die schuldbeladene SED-Staatspartei aufzulösen. Statt dessen konnte sie einen Großteil ihres Vermögens, ihre Mitglieder und Kader retten und als PDS politisch erneut Fuß fassen. Insgesamt überwiegen jedoch die positiven Erfahrungen der Bürgerrechtler im wiedervereinigten Deutschland. Haben manche auch bedauert, dass es keine Verfassungsdebatte gegeben hat, sondern die Einheit über Artikel 23 des Grundgesetzes eher durchgemogelt wurde, so vereint sie doch die Freude über die 1989/1990 erkämpfte Freiheit. Das historische Verdienst der Menschen im Osten, so meint Rößler, „sollte alle Deutschen mit Stolz erfüllen, den man durchaus Patriotismus nennen darf“.
Buchtipp:
Eckhard Jesse (Hg.): Friedliche Revolution und deutsche Einheit. Sächsische Bürgerrechtler ziehen Bilanz
Christoph Links Verlag, Berlin 2006,
302 Seiten, 24,90 Euro
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- Quelle: /www.ne-na.de /Philip Rickert
- Erstellt am 19.08.2006 - 00:24Uhr | Zuletzt geändert am 10.01.2022 - 18:01Uhr
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