Nach drüben!
Jena, 24. April 2006. Wer kennt sie nicht, jene Geschichten über "Ossis" und "Wessis"? Geschichten, über die man sich, je nach Perspektive und Betroffenheit, entweder gefreut, gewundert oder geärgert hat - falls man überhaupt in Kontakt mit den "anderen Deutschen" kam.
Neue Publikation von Historikern der Universität Jena
Da ist die Geraer Krankenschwester, die in ihrer neuen Heimat im Westen der Bundesrepublik nicht nur wegen ihres "Ost"-Dialektes belächelt wird. Wiederholt diskutieren ihre Kollegen darüber, ob Ostdeutsche überhaupt die für den Pflegedienst notwendigen moralischen Voraussetzungen mitbrächten. Diese könnten schließlich in der kommunistischen Diktatur abhanden gekommen sein. Die meisten neuen Bundesbürger verfügten nicht einmal über ein festes religiöses Fundament. Der Hinweis darauf, dass es auch im Osten humanitäre Grundsätze gegeben hätte und noch immer gäbe, trifft oft auf taube Ohren.
Oder die junge Akademikerin, die mit ostdeutschen Bekannten in einer Berliner Küche sitzt. Die Frauen erzählen und lachen, sie selbst sitzt völlig verständnislos daneben und begreift nichts: "Es war nicht so, dass sie Pionier-Witze erzählt hätten. Es war vielmehr so etwas, wo ich gedacht habe: 'Eigentlich verstehe ich ungefähr, worum es geht, aber finde es einfach nicht lustig!' Ich habe dann versucht mich einzubringen, erntete aber nur Fragezeichen. Da ging die gesamte Kommunikation völlig aneinander vorbei."
Solche Gedanken- und Erinnerungssplitter ganz unterschiedlicher Frauen und Männer verweisen auf ein Panorama von Erfahrungen, das Studenten des Historischen Institutes der Friedrich-Schiller-Universität Jena aufgearbeitet und in einem Band dokumentiert haben. Die Publikation ",Nach drüben' - Deutsch-deutsche Alltagsgeschichten 1989-2005", die von Silke Satjukow herausgegeben wird, vereint 19 Interviews zu persönlichen Erfahrungen im anderen, zunächst fremden Teil Deutschlands. Die Zeitzeugen hatten sich aufgemacht und sind an einem anderen Ort in Deutschland angekommen, sie haben wenige oder auch Hunderte von Kilometern und überdies ihre Sorgen und Ängste überwunden. Ihre individuellen, sehr persönlichen Sichtweisen und Einschätzungen sind Gegenstand der soeben erschienenen Dokumentation.
Das Buch befragt Frauen und Männer, Jung und Alt, Professoren und Arbeiter zu ihren Wechsel-Erfahrungen und den hieraus gewonnenen Einschätzungen. Dabei werden keine Mustermenschen vorgestellt, keine Prominenten oder gar Helden der Einheit, sondern Menschen, für die das Einheitsgeschehen integraler Bestandteil ihrer Biographie wurde. Sie haben seit dem Wendejahr 1989/90 die deutsche Einheit gelebt - mit all den Ängsten und Hoffnungen, den Schmerzen und Problemen, den Freundschaften und Feindschaften, den Erfolgen und Misserfolgen, die eine gänzlich andere Umwelt mit sich brachte und bringt. "Das Buch kann keine Patentwege aufzeigen, sondern es will Gelebtes und Gefühltes aus der Sicht der Menschen vor Ort beschreiben", sagt Herausgeberin Satjukow.
Viele der Befragten denken wie selbstverständlich über "Heimat" nach. Der Band, verlegt und vertrieben von der Landeszentrale für politische Bildung in Thüringen, macht nachdenklich und zuweilen sogar betrübt. Nur wenige Geschichten erzählen ein Märchen von der Einheit mit Happyend. Die meisten von ihnen erzählen von der Mühe der Einheit - und vom immer noch offenen Ausgang. "Wir sind ein Volk", hieß 1989 die Parole - sind wir es schon?
Bibliographische Angaben:
Silke Satjukow (Hg.): "Nach drüben". Deutsch-deutsche Alltagsgeschichten 1989-2005, Erfurt 2006, ISBN 3-937967-01-X. Das Buch ist zu beziehen bei der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen, Regierungsstraße 73, 99084 Erfurt.
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- Quelle: /idw /FSU Jena /Axel Burchardt
- Erstellt am 24.04.2006 - 20:41Uhr | Zuletzt geändert am 13.10.2022 - 12:54Uhr
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