Der 9. November, ein Tag in Deutschland

Der 9. November, ein Tag in DeutschlandGörlitz, 9. November 2021. Von Thomas Beier. Gerade auf den November, allenthalben trist und depressive Stimmungen fördernd, entfällt ein für die deutsche Geschichte wichtiger Tag, der Neunte.

Abb.: Der Altbau des Jüdischen Museums in Berlin, ehemals Sitz der Königlichen Justizverwaltung. Zusammen mit dem angrenzenden Museumsneubau von Daniel Libeskind ist es das größte seiner Art in Europa
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Machtfragen

Machtfragen
Das Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin, kurz Holocaust-Denkmal genannt
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Stets hatte der 9. November, wenn er geschichtsträchtig wurde, mit Machthabern zu tun: Im November 2018 wurde das Ende eines unfähigen Kaisers und des Abschlachtens in einem aussichtslosen Krieg besiegelt und im November 1989 mit der Öffnung der Berliner Mauer das Ende des SED-Regimes, einer Diktatur der linken Spießer, weniger der linken Intellektuellen. 1938 hingegen folgten die deutschen Nazis – darunter auch jene, die es selbst nicht wahrhaben wollten, ein Nazi zu sein – den Gedanken von eigener Überlegenheit und der Minderwertigkeit anderer, als sie Synagogen zerstörten oder johlend zusahen, wenn sich Gewalt gegen ihre jüdischen Mitbürger richtete. Jene, die das widerwärtig fanden, müssen mit der Frage leben: Was habt ihr dagegen getan, in diesem Moment oder später?

Zwei Synagogen

Was wurde aus den in der Pogromnacht geschändeten und angezündeten jüdischen Gotteshäusern, den Synagogen? An viele erinnern heute nur noch Denkmale, anders als etwa bei der 1866 eingeweihten Neuen Synagoge in Berlin und der 1911 eröffneten Neuen Synagoge in Görlitz: In beiden Fällen verhinderte die Feuerwehr größere Schäden am Gebäude. Des Schicksal der beiden Synagogen ähnelt: Nach den Novemberprogromen von 1938 gab es noch vereinzelte Gottesdienste, in Görlitz den letzten 1940.

In Berlin zog Anfang 1943 die Wehrmacht ein und legte ein Uniformlager an, im November beschädigten RAF-Bomber das Gebäude schwer. Die Görlitzer Neue Synagoge wurde nach dem Krieg profan genutzt und dann, inzwischen im Eigentum der Stadt Görlitz, weitgehend dem Verfall überlassen. Erst in den 1980er Jahren wurden Pläne zur Sicherung der Bauwerke beziehungsweise dessen, was nach Abrissarbeiten von Neuen Synagoge Berlin hinter der stehengebliebenen Straßenfassade an der Oranienburger Straße noch übrig war, ins Auge gefasst.

Die Neue Synagoge Berlin wurde 1995 wiedereröffnet, doch nur in der Straßenansicht detailgetreu restauriert, um sich nicht dem Vorwurf der Verdrängung auszusetzen. Anders die 2021 fertiggestellte Sanierung der Neuen Synagoge Görlitz, die in alter Pracht, jedoch unter Beibehaltung historische Spuren wiedererstanden ist. Dass hier allerdings jüdische Symbolik an der Fassade überputzt geblieben ist, dürfte eine späte Genugtuung für jene sein, die das jüdische Leben in Görlitz auslöschen wollten. Die Neue Synagoge Berlin beherbergt heute das Centrum Judaicum und einen kleinen Gebetsraum, die Neue Synagoge in Görlitz hingegen wird als Kulturforum genutzt, hier ist den Gebeten die frühere Wochentagssynagoge hinter dem Kuppelsaal vorbehalten.

Beide Synagogen sind nicht wieder geweiht worden, dennoch finden Gottesdienste in ihnen statt. In Görlitz zeichnet sich ab, dass während des Chanukka-Festes – gefeiert zur Erinnerung an die Wiedereinweihung des zweiten jüdischen Tempels in Jerusalem im Jahr 164 vor Christus (im jüdischen Jahr 3597) – Anfang Dezember zu Gottesdiensten so viele Teilnehmer erscheinen werden, dass die kleine Wochentagssynagoge nicht mehr ausreichen wird. Wird der Thoraschrein des Kuppelsaals nun erstmals seit 1940 wieder eine Thorarolle aufnehmen? Wie wird das wiederhergestellte Synagogengebäude überhaupt der nationalsozialistischen Auslöschung auf Dauer gerecht – als Kulturforum mit Erinnerungscharakter oder als Synagoge einer auflebenden Jüdischen Gemeinde in Görlitz und Zgorzelec, in der auch weltliche Veranstaltungen – ähnlich der Johanniskirche Zittau, Platz finden? Noch steht die Frage nicht, jedoch: Zukunft war schon immer spannend.

Leben in der Diktatur

Die Frage, wie sie sich unter der SED-Diktatur eingerichtet oder gewehrt haben, müssen sich auch die "DDR"-Bürger gefallen lassen. Hier hat wohl jeder sein Maß gefunden, sich mit der linken Diktatur einzurichten, sich abzugrenzen oder eben sich dagegen zur Wehr zu setzen. Diesem Leben in Widersprüchlichkeit haben sich jene entzogen, die abgehauen sind, wie man das nannte. Der Begriff "abgehauen" war durchaus vielfältig belegt, von der Flucht vor den Herausforderungen des "sozialistischen Aufbaus" oder denen des tristen sozialistischen Alltags im maroden Altbau oder im Arbeiterschließfach bis hin zur Flucht vor mangelnden Herausforderungen, weil die Kaderpolitik jegliches Fortkommen in Beruf und Gesellschaft verhinderte.

Wer den "real existierenden Sozialismus" noch bewusst erlebt hat, der weiß, dass heute vieles verzerrt dargestellt oder gar verklärt wird – und muss akzeptieren, dass jene, die nicht dabei waren, sich die deutsche Teilung und das Leben in der Diktatur nicht mehr vorstellen können. Die Sächsische Landesbeauftragte zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Dr. Nancy Aris, erinnert an die Überwindung der Berliner Mauer als weltgeschichtliches Ereignis: "Hinter dem Mauerfall am 9. November 1989 lagen Jahre des Widerstands, der Selbstbehauptung, mit der mutige Menschen dazu beitrugen, die Diktatur zu überwinden. 1989 gingen Millionen Menschen auf die Straße. Aber auch vorher gab es Protest in der DDR. Viele zahlten für ihren Freiheitsdrang mit Bespitzelung, beruflicher Ausgrenzung oder Haft."

So kann man es sagen, wenn man die mehr als zwei Millionen SED-Genossinnen und Genossen – bei nicht einmal 17 Millionen Einwohnern – ausblendet. Natürlich waren das alles verkappte Regimegegner, die den SED-Staat von innen aushöhlen wollten oder gar zum Parteieintritt gezwungen wurden – Unsinn. Für den SED-Beitritt gab es spätestens seit Beginn der 1980er Jahre, als der Verfall des Wirtschaftssystems für jedermann offenkundig wurde, nur zwei Gründe: Entweder war es dümmliche Begeisterung für den Mangelwirtschaftssozialismus oder ein notwendiger Schritt für höhere Bildung und Karriere. Die Freiheit, nicht einzutreten und mit den Konsequenzen zu leben, die hatte jeder.

Ein wenig Glücklichsein, bitte nicht kaputtmachen

In welchem Land, in dem extrem linke oder extrem rechte Kräfte an die Macht kamen, wurden die Menschen glücklich? Nirgends. Um sozialistische Ideen – ob nun nationalen oder internationalen Charakters – durchzusetzen, wurde regelmäßig ein Unterdrückungsapparat aufgebaut, der nach Andersdenkenden suchte und diese ausgrenzte, sogar vorbeugend verhaftete und deren Tod in Kauf nahm, wenn nicht wie unter Hitler und Stalin systematisch betrieben.

Daran sollten jene denken, die heute mangelnde Meinungsfreiheit beklagen, weil sie meinen, jeder Blödsinn müsse widerspruchslos hingenommen werden und es gebe ein Recht auf Weiterverbreitung verbalisierter Dummheit in der Presse. Im Übrigen hat niemand das Recht, den Anspruch eines Einzelnen auf faire Behandlung und ein wenig Glück im eh zu kurzen Leben zu verwehren, oft genug nur weil vielleicht er selbst mit seinem Leben nicht im Reinen ist.

Anstelle die Freiheiten der freiheitlich-demokratischen Grundordnung der modernen Bundesrepublik zu nutzen, beschränken sich viele auf ein dumpfes und bequemes "Dagegen!" und lassen sich auf krude Verschwörungstheorien ein. Doch diesem Thema weicht der Görlitzer Anzeiger als Zentralorgan der tiefstaatlichen BRD GmbH, produziert unter dem Einfluss von Chemtrails und bezahlt von Reptiloiden, lieber aus.

Lektionen in Sozialismus:

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  • Quelle: Thomas Beier | Fotos: © BeierMedia.de
  • Erstellt am 09.11.2021 - 06:32Uhr | Zuletzt geändert am 09.11.2021 - 10:05Uhr
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