Offener Brief zum Denkmalschutz in Görlitz
Görlitz, 2. Juni 2016. Görlitz ist stolz auf seine mehr als 4.000 Baudenkmäler. Die sind für den Tourismus wie auch für das Handwerk sowie Architektur- und Ingenieurbüros eine bedeutsame Wirtschaftsgrundlage. Doch wie ernst nimmt die Stadt den Umgang mit ihrer Denkmalsubstanz? Matthias Jäkel ist einer der "Bürgerräte der ersten Stunde" im Görlitzer Beteiligungsgebiet Innenstadt-Ost. Doch nicht in dieser Funktion, sondern als Bürger der Neißestadt treibt ihn die Sorge um, der Denkmalschutz könne hier an Bedeutung verlieren. Deshalb hat er einen Offenen Brief an die Bürgerinnen und Bürger der Stadt Görlitz geschrieben, den der Görlitzer Anzeiger nachstehend im Wortlaut wiedergibt (die Fotos und Bildunterschriften sind kein Teil des Offenen Briefs).
Abbildung oben: An der geschlossenen Stadthalle Görlitz, 27. Mai 2016.
Offener Brief vom 2. Juni 2016
Sehr geehrte Bürgerinnen und Bürger der Stadt Görlitz,
mit diesem Schreiben möchte ich mich nicht als Mitglied eines Bürgerrates an Sie wenden, sondern als ein Bürger der seine Stadt liebt. Und wenn man jemanden liebt, dann sorgt man sich manchmal auch um ihn.
Wie Sie sicher alle erfahren haben soll es mit dem neuen Haushaltsjahr eine bedeutende Entscheidung zum Denkmalschutz in Görlitz geben. Diese Entscheidung kann dramatische Auswirkungen auf uns alle und auf die Zukunft unserer Stadt haben. Und das macht mir Sorgen.
Konkret soll darüber entschieden werden, den Görlitzer Denkmalschutz in seiner jetzigen Form nicht weiter bestehen zu lassen. Die Gründe sind altbekannt, der populärste ist die Haushaltslage. Es wird also die Frage gestellt, ob wir uns eine Denkmalschutzbehörde als Stadt und in der jetzigen Größe leisten können. Dazu möchte ich einiges anmerken.
Wenn wir von "Größe" sprechen, ist damit nicht nur die vermeintliche "Personalstärke" von vier Mitarbeitern für über 4.000 zu betreuende Denkmäler in der Stadt gemeint, sondern auch die "Größe" des Einflusses auf die Gestaltung der Stadt.
Eines vorweg: Denkmalschutz ist gesetzlich vorgeschrieben und niemand hat das Recht Kulturgut zu zerstören. Was jedoch einmal durch falsche Entscheidungen unwiederbringlich zerstört ist, kann und muss auch nicht mehr geschützt werden. Görlitz besteht nicht nur aus seiner prächtigen Altstadt, seinen Türmen und Kirchen. Wir leben in einem kulturhistorischen Gesamtgebilde, zu dem als untrennbarer Bestandteil auch eine der größten Gründerzeitbebauungen in Europa gehört. Und hier ist noch viel zu tun, zu schützen und zu bewahren.
Oft habe ich den Satz gehört, dass die Stadt gerettet sei. Ich laufe mit offenen Augen durch die Gründerzeitstraßen der Innenstadt und kann dem nicht zustimmen. Ich spaziere über den einmaligen Nikolaifriedhof und kann dem nicht zustimmen. Ich sehe die Stadthalle, die es zu sichern und zu erhalten gilt, bis sie wieder eine Nutzung erfährt, und kann dem nicht zustimmen. Ich beobachte die ersten Risse in den sanierten Fassaden und kann dem mitnichten zustimmen.
Sicher, nicht bei jedem ist diese Behörde beliebt. Oft genug hat man sie gesehen, die Mitarbeiter mit den Argusaugen neben dem nervösen Bauherren, auf der Suche nach Fresken und Malereien. Aber versetzen Sie sich einmal in die Lage derer, die das Erbe für uns und die nächsten Generationen zu schützen haben. Eine im Hier und Jetzt getroffene Entscheidung verändert nicht nur die Zukunft, sondern auch die Vergangenheit dieser Stadt. Für immer. Manch ein persönlicher Belang könnte aus dieser Perspektive plötzlich sehr klein aussehen.
Hin und wieder habe ich auch den Vorwurf laut werden hören, dass der Denkmalschutz in Görlitz potentielle Investoren vergraule. Dazu hat mir ein kluger Mensch erst vor kurzem einen klugen Satz mit auf den Weg gegeben: "Einen Investor kann man nicht locken oder vertreiben, sobald er Geld wittert wird er nicht locker lassen."
Und auch diese Frage sollten wir uns stellen: Wollen wir nachhaltige, innovative Investoren, die uns und unsere Stadt schätzen oder werfen wir sie den Heuschrecken zum Fraß vor, damit sie nach aufgebrauchten Subventionen das Weite suchen? Was werden uns diese Investoren hinterlassen? Verbrannte Erde.
Görlitz wächst wieder, wenn auch langsam. Es siedeln sich junge Unternehmen in opulenten Villen an, wir haben ständig steigende Touristenzahlen, längst abgeschriebene Flaniermeilen finden behutsam zu neuem Leben. Junge Familien ziehen in die großzügigen Wohnungen der Innenstadt, in verwaisten Ladengeschäften gründen sich alternative Unternehmensformen.
Wo könnte man sich besser auf die hektischen Herausforderungen des digitalen Zeitalters einstellen als in den historischen Gemäuern dieser Stadt, die die Gelassenheit von Jahrhunderten ausstrahlen? Wo würde dieses Wachsen und diese Gelassenheit stattfinden, wenn sich niemand für den Erhalt des Nährbodens eingesetzt hätte?
Meiner Meinung nach stellt sich nicht die Frage, ob wir uns einen Denkmalschutz leisten können, denn das haben wir auch in den Zeiten der ehemaligen DDR geschafft, in der Denkmalschutz nicht bezahlbar, schwer realisierbar und schlichtweg nicht gewollt war. Die Frage sollte lauten: Können wir es uns leisten, auf den Denkmalschutz in seiner bestehenden Form zu verzichten?
Nach allen Höhen und Tiefen, Kriegen und Friedenszeiten, wirtschaftlichem Auf- und Abschwung ist eines nachhaltig geblieben: unsere Stadt. Und diese Stadt hat nicht nur ein von den Zeiten gezeichnetes Gesicht in ihren Fassaden, sondern auch eine Seele in den Menschen, die dieses Erbe jeden Tag bewahren, in dem sie es leben. Wir leben in dieser Stadt aber auch mit dieser Stadt und der damit verbundenen Verantwortung, die manchmal eine Bürde, zu guter Letzt jedoch ein einmaliges Geschenk ist.
Wir haben die Chance uns über die Zeiten in Erinnerung zu halten, wir können uns mit dieser Stadt ein Denkmal setzen.
Ich bitte Sie daher sich die Zeit zu nehmen, um über meine Sorgen nachzudenken. Denn wir, die Bürger entscheiden, ob wir auf die Hilfe, die Kompetenz und den Erfahrungsschatz des Denkmalschutzes in Görlitz verzichten können und nur wir tragen die Verantwortung für diese Entscheidung.
Vielen Dank
Matthias Jäkel
Wir stehen in der Pflicht!
Von Lutz Bährend am 10.06.2016 - 11:42Uhr
Herr Jäkel hat mit allen seinen Aussagen, Denkanstößen und in der Konsequenz völlig recht. Vielen Dank für diesen Offenen Brief!
Wir als Bürger in der Gegenwart sind Teil der Kette von Generationen, die gingen und noch kommen werden. Und deshalb haben wir hier und jetzt auch die Pflicht zum verantwortungsvollen Handeln.
Lesen - Durchdenken - Verstehen - Handeln!
Bürger der Stadt sein!
Ich grüße alle Görlitzer - Hüter des Weltkulturerbes.
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- Quelle: red | Matthias Jäkel | Fotos: © Görlitzer Anzeiger
- Erstellt am 02.06.2016 - 15:10Uhr | Zuletzt geändert am 02.06.2016 - 15:52Uhr
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