Ostalgie 2.0 in Görlitz?
Görlitz, 29. Juli 2016. Einem Projekt mit G'schmäckle geben sich die Görlitzer Sammlungen für Geschichte und Kultur – Kulturhistorisches Museum und der Förderverein Kulturstadt Görlitz-Zgorzelec e.V. (FVKS) hin. Es nennt sich "Erfahrung DDR" und fordert zum Mitmachen auf. Ostalgie 2.0?
Eine Meldung mit Kommentar vorab
Unkommentiert, besser gesagt unvorbereitet kann man dieses Projekt "Erfahrung DDR" nicht zur Kenntnis nehmen. Weshalb? Zumindest aus dem, was vorab zu erfahren ist, entsteht der Eindruck, als würden Schaustücke und Erinnerungen an die Zeit, als die Sowjetische Besatzungszone als "DDR" auftrat (in Wahrheit weder deutsch noch demokratisch noch eine Republik) beliebig nebeneinandergesetzt: der Ehekredit neben den Tag des Lehrers und die politischen Gefangenen, garniert vielleicht noch mit Frauenruheraum, Schwimmabzeichen und Nationaler Front.
Obgleich die Ausstellungsmacher keine Nostalgie wollen droht mir dennoch die Wahrheit des SED-Staates von der Rührseligkeit der Erinnerung überdeckt zu werden. Fast jeder "DDR"-Insasse war mehr oder weniger in das System involviert, schon, um durch den Eintritt in eine oder mehrere Massenorganisationen Ruhe vor den Handlangern des Regimes zu finden. Für die Erlebnisgeneration eine Frage der Selbstachtung, aus dem Leben in dieser Zeit die positiven Aspekte zu betonen, die Schuld tragen immer die anderen.
Eine Ausstellung, die sich nur aus Erinnerungen rekrutiert, gerät automatisch zum Zerrbild, wie es von der Erinnerung nun einmal geliefert wird. Nötig ist der klare Hinweis auf den Unrechtsstaat, der seine Bürger verurteilte für Handlungen, die ihnen die eigene Verfassung zugestand, der Angeklagten nicht einmal ihre Anklageschrift aushändigte, der mit Hilfe seines Ministeriums für Staatssicherheit für nicht genehme Bürger "zersetzend" wirkte, der mir bei meinem Berufsstart in Görlitz einen dreifachen Aufschrei abnötigte: Nein, ich trete nicht in Eure Partei ein! Nein, ich trete nicht in Eure Kampfgruppen ein! Nein, ich wirke nicht an Euren Landesverteidigungs- (sprich: Rüstungs)projekten mit!
Die Mehrheit der reichlich 16 Millionen Leute zählenden "DDR"-Bevökerung, darunter mehr als 2,2 Millionen SED-Mitglieder (Stand Mai 1989), spielte murrend mit. Echter Widerstand war angesichts der Allmacht des SED-Staates kaum möglich. Doch wer ist denn in diese Partei, die einer Diktatur vorstand, eingetreten? Neben den von der linken Alternative ehrlich Überzeugten der Anfangsjahre doch wohl nur Karrieristen und Dummköpfe. Karrieristen übrigens sind überaus anpassungsfähig und machen in jedem System Karriere.
Es ist gut, dass es dieses Gebilde "DDR" nicht mehr gibt, dass seine Bürger derartig deformiert hat, dass es vielen nicht mehr gelang, in der freiheitlichen Gesellschaft des wiedervereinigten Deutschlands Fuß zu fassen. Seltsam ist allerdings, dass frühere "DDR"-Bürger ihre Vergangenheit bis 1989 oftmals als Makel empfinden statt den Vorteil, zwei unterschiedliche Systeme und damit zwei real existierende Gesellschaften erlebt zu haben, in die Waagschale zu werfen.
Nun denn, gut, dass die ostzonale Vergangenheit, so auch die unterschiedliche Sozialisierung der heute Älteren, den Alltag kaum noch bestimmt. Und dass nun mit "Erfahrung DDR" ein wenig in der Erinnerungskiste gekramt wird, so lange sich jemand noch erinnern kann, hat ja unbestreitbar einen gewissen Charme.
Auch wenn er morbide ist,
meint Ihr Thomas Beier
"Erfahrung DDR!" - Exponate und Erinnerungen zur "DDR"-Geschichte gefragt
Gesucht werden nicht nur potenzielle Ausstellungsstücke aus der "DDR"-Zeit zu Leihe für die Ausstellung ab November 2016 im Kaisertrutz Görlitz, sondern insbesondere die damit verknüpften Erinnerungen, Erlebnisse und Erfahrungen. Als Leihgeber ist jeder Görlitzer gefragt und kann auf diese Weise die Ausstellung mitgestalten. "Ziel des Projektes ist es, die Mehrdimensionalität der Geschichte bewusst zu machen und ein Kapitel der jüngeren Görlitzer Stadtgeschichte zu dokumentieren. Es geht nicht darum, nostalgische Erinnerungen an die DDR-Zeit zu wecken. Wir wollen gute und schlechte Erfahrungen und Erlebnisse der Görlitzer in der Ausstellung nebeneinander stellen", erklärte Ines Haaser, Historikerin im Kulturhistorischen Museum Görlitz und Kuratorin der Ausstellung.Für das Kulturhistorische Museum gleicht das Ausstellungsvorhaben einem Experiment. Haaser: "Wir stellen die Fläche und Ausstellungsarchitektur, wissen aber nicht, wie viele Objekte zu uns gebracht werden. Es wäre schön, wenn die Themenräume mit einem möglichst breiten Spektrum an Exponaten gefüllt werden. Und wir hoffen, dass sich die Menschen öffnen und damit auch nachgeborene Generationen und neu Hinzugezogene an ihren Erinnerungen an die DDR-Zeit in Görlitz teilhaben lassen."
Der Aufruf des Kulturhistorischen Museums zum Mitmachen ergeht deshalb an die Einwohner der Stadt und auch die Görlitzer, die heute an einem anderen Ort leben: "Schauen Sie in Ihren Schränken, im Keller auf dem Boden, was Sie aus dieser Zeit aufgehoben haben. Fragen Sie Großeltern, Eltern, Verwandte und Bekannte! Bringen Sie uns das für Sie bedeutendste Stück und erzählen Sie uns, was Sie damit verbinden."
Um die Ausstellung zu strukturieren werden Themenräume eröffnet, denen die Gegenstände zugeordnet werden können. Kuratorin Haaser gibt Stichworte für die Suche nach Exponaten, die dann in dem Kapitel zu finden sein könnten, bispielsweise:
- Kindheit – Jugendzeit
Kinderkrippe, Kindergarten, Wochenkrippe; Schulanfang, Fotos, Schultüten, Schulranzen, Federmäppchen, Stundenplan, Sportsachen, Stifte, Turnbeutel, Schulhefte, Schulbücher, Brotbüchse, Schulgarten, Wehrerziehung, ESP, PA, UTP, Fahnenappell, Patenbrigade, Sportabzeichen, Kinder- und Jugendspartakiade, Schwimmabzeichen, Schwimmerlaubnis, Badekappe, Schulessen, Mach´s mit, mach´s nach, mach´s besser!, Haus der Pioniere, Jugendorchester, Musikschule, große Ferien, Ferienspiele, Manöver Schneeflocke; Jugendweihe und Opposition, Konfirmation - Familie – Partnerschaft – Wohnung
Partnersuche, Kennenlernen, Homosexualität, Coming out, Eheschließung, Hochzeit, Hochzeitskleid und Hochzeitsanzug, Hochzeitsgeschenke, Feier, Buch der Familie, Ehekredit, Wohnraum, Wohnraumsituation, Hausbuch, Haustafel, Hausordnung, Wäsche waschen, Waschmaschine, Schleuder, Rolle, Kohlelieferung, Einkochen, Entsaften, Vorratswirtschaft im Keller, Trabi – das Familienauto, warten auf das Auto, Autoanmeldung, Kfz-Laden, besonderes DDR-Design, Jugendmode (Jeans wie Wisent oder Boxer), Spowa, Einkaufen in der DDR (Konsum, HO, Delikat, Exquisit, Intershop, Stoffläden) - Parteien – Wahlen – Diktatur des Proletariats
SED, NDPD, LDPD, CDU, Nationale Front, Wahlkarten, Wahlbenachrichtigungen, Staatsbürgerkundeunterricht, 1. Mai-Demonstration, Rummel auf dem Eli, Fahne raus! Mai-Nelke ran!, Tag der NVA, Tag des Lehrers, Kindertag, Blumen zum Internationalen Frauentag, Benennung der Görlitzer Schulen (z.B. "Hans Beimler", "Johannes Wüsten"), Straßennamen, politische Gefangene, Arbeit in Betrieben, Organisationen wie DSF, DFD, KB, FDGB, Urania, Friedensfahrt, Olympische Spiele, Weltfestspiele der Jugend 1973
Das Mitmachprojekt "Erfahrung DDR!" ist eine Aktion des Kulturhistorischen Museums Görlitz in Kooperation mit dem Förderverein Kulturstadt Görlitz-Zgorzelec e. V. und wird gefördert im Fonds Stadtgefährten der Kulturstiftung des Bundes.
Aussteller werden!
Das "Erfahrung DDR!"-Info- und Sammelmobil ist weiter auf Tour. Am Sonntag, dem 31. Juli 2016, machen Agnieszka Lemmer und Robert Lorenz von 14 bis 18 Uhr mit dem Feuerwehr-Barkas am Berzdorfer See Station. Beim Hafenfest zur 1. Görlitzer Seewoche sollen die Projektmitarbeiter die Besucher über das jüngst gestartete Mitmachprojekt informieren. Bei diesem Halt können Gegenstände direkt abgegeben oder Übergabe-/Abholtermine vereinbart werden. Anzutrefen ist das Infomobils auch auf dem Sommerfest des Arbeiter-Samariter-Bundes am 13. August 2016.
Kontakt:
Die "Erfahrung DDR!"-Mitarbeiter sind dienstags bis donnerstags von 13 bis 17 Uhr im Projektbüro Untermarkt 23, 02826 Görlitz, erreichbar:
- Agnieszka Lemmer, Tel. +49 3581 - 7 - 67-8343, E-Mail a.lemmer@erfahrung-ddr.de
- Robert Lorenz, Tel. +49 3581 - 7 67 - 8344, E-Mail r.lorenz@erfahrung-ddr.de
Ergebnis: Darf man DDR-Geschichte relativieren?
Umfrage seit dem 29.07.2016
Teilnahme: 80 Stimmen
Ihr Kommentar vorab
Von Kulturhistorisches Museum, Kerstin Gosewisch am 29.07.2016 - 10:31Uhr
Lieber Herr Beier,
vielen Dank für den Kommentar vorab, der Ihre Meinung widerspiegelt. Auch Sie sind herzlich eingeladen, Ihre guten wie negativen Erfahrungen an die DDR-Zeit mit den Görlitzern zu teilen. Woran erinnern sich denn die Menschen hier noch und wie? Genau das ist der Ansatz bei diesem Projekt! Bringen Sie ein Erinnerungsstück und erzählen Sie die damit verbundene Geschichte. Bewusst will das Museum an dieser Stelle einen Raum zur Auseinandersetzung mit der eigenen Biographie eröffnen und verzichtet im Sinne der Mitwirkung der Görlitzer auf die gewohnte monoperspektivische Deutungshoheit und die Kontextualisierung der durch die Leihgeber und Bürger selbst musealisierten DDR-Alltagsgegenstände.
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- Quelle: red | Grafik: Kulturhistorisches Museum Görlitz, Foto Ampelmännchen: Hans / Hans Braxmeier, pixabay, Lizenz CC0 Public Domain
- Erstellt am 28.07.2016 - 19:42Uhr | Zuletzt geändert am 15.10.2022 - 17:18Uhr
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